Blutvertrag
bis zum Erdgeschoss hinunter. Eine Tür zur Linken führte zu den dort untergebrachten Gästezimmern. Rechts gelangte man durch eine andere Tür ins Freie, wo ein beleuchteter Weg zur Vorderseite des Hotels führte.
Am Rand des Weges wuchsen Hibiskussträucher. Die großen, roten Blüten zitterten im Wind, als wollten sie etwas Unheilvolles ankündigen.
Neben dem Hotel stand ein dazugehöriges dreistöckiges Parkhaus. Tim ging hinein, um zu seinem Wagen zu gelangen.
Sämtliche Gäste waren verpflichtet, ihr Auto von einem Hotelangestellten einparken zu lassen, egal, wann sie ankamen. Allerdings hätte Tim niemals jemand anders den Autoschlüssel ausgehändigt und damit auf die Option verzichtet, jederzeit flüchten zu können.
Von Mitternacht bis sechs Uhr morgens war der betreffende Angestellte auch für den Zimmerservice zuständig, weshalb er nicht in seinem Kabuff am Parkhaus saß. Wenn Gäste eintrafen, mussten sie läuten.
Tim hatte nicht geläutet. Er hatte dort geparkt, wo es ihm passte.
Nun war es kurz vor ein Uhr morgens, als er eine Taschenlampe aus seinem Wagen holte. Aus dem Wagenheberfach im Kofferraum nahm er außerdem einen kleinen Werkzeugbeutel mit Reißverschluss.
Durch die Zwischenräume in den Mauern des Parkhauses pfiff der Wind, und an verschiedenen Stellen in den hohlen Betonbuchten flüsterten gespenstische Stimmen, erzeugt vom selben Wind, der Bauchredner spielte.
Sobald Tim in das Zimmer im zweiten Stock zurückgekehrt war, drückte er die Tür zu und schloss ab. Auch die Sicherheitskette legte er vor, obwohl sie nicht einem einzigen
entschlossenen Tritt standhalten würde. Aber selbst wenn sie einen Eindringling nur zwei oder drei Sekunden aufhielt, konnte das lebensrettend sein.
Er ging zum Fußende von Lindas Bett. Wie vorher lag sie mit geschlossenen Augen auf dem Rücken.
»Schläfst du?«, flüsterte er.
»Nein«, antwortete sie flüsternd, »ich bin tot.«
»Ich muss mehr Licht machen.«
»Nur zu.«
»Weil ich was ausprobieren will.«
»In Ordnung.«
»Ich versuche, ganz leise zu sein.«
»Eine tote Frau stört so was ohnehin nicht.«
Er stand da und blickte auf sie hinab.
Nach einer kleinen Weile fragte sie, ohne die Augen zu öffnen: »Ist es wieder mein Haar?«
Tim ließ sie samt ihrem fantastischen Haar liegen, knipste die Deckenbeleuchtung an und ging zur Balkontür.
Sein Spiegelbild im Glas gefiel ihm gar nicht. Es sah aus wie ein Bär, ein großer, tollpatschiger, zerzauster, ahnungsloser Bär. Kein Wunder, dass sie die Augen geschlossen hielt.
Jedes der beiden verglasten Türblätter war einen guten Meter breit. Das auf der rechten Seite war fixiert worden. Nur das linke ließ sich aufschieben; es glitt an der Innenseite am anderen vorbei.
Da es sich um ein wirklich gutes Hotel handelte, hatte man sich bei den Details Mühe gegeben. Der Metallrahmen der Tür war nicht einfach über den Gipskarton der Wand montiert, sondern in diese eingegipst, sodass die Tapete sauber abschloss.
Selbst Flachkopfschrauben hätten den Anblick verschandelt, weshalb die Tür von innen her nicht verschraubt war.
Tim schob die linke Hälfte einige Zentimeter weit auf. Neugierig schnupperte der Wind an ihm, während er mehrfach den Schnappverschluss betätigte.
Das Hotel war schon ziemlich alt, und die Türen gehörten offenbar zur Erstausstattung. Weil die Welt damals noch ungefährlicher gewesen war und weil der Balkon etwa fünfzehn Meter über dem Boden schwebte, hatte man die Tür nicht mit einem anständigen Schloss versehen.
Die einfache Schnappvorrichtung war perfekt dazu geeignet, die Tür geschlossen zu halten. Übte man jedoch rohen Druck aus, so hielt das Schloss bestimmt nicht lange stand.
Als Tim sich aus der Hocke erhob und umdrehte, um Lindas Hilfe zu erbitten, stellte er fest, dass sie bereits hinter ihm stand und ihn beobachtete.
»Du bist ja doch nicht tot«, sagte er.
»Ein Wunder ist geschehen. Was machst du da eigentlich? «
»Ich will ausprobieren, ob ich hier herumhantieren kann, ohne jemanden aufzuwecken.«
»Ich bin sowieso hellwach. Die ganze Zeit schon. Das weißt du doch, oder?«
»Vielleicht leidest du unter Schlafstörungen.«
»Darüber werde ich nachdenken.«
»Gut. Ich meine, es geht mir darum, ob ich hier arbeiten kann, ohne die Leute im Nebenzimmer aufzuwecken. Kannst du hinter mir bitte die Tür zumachen?«
»Aber gern.«
Mit Taschenlampe und Werkzeugbeutel ausgestattet, trat Tim auf den Balkon. Der Nachtwind war nun nicht
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