Blutvertrag
beruhigte er sie.
20
Die Vorhänge vor der Balkontür waren zugezogen. Die Lampe auf dem Nachttisch war auf die schwächste Stufe eingestellt.
Neben dem Bett stand Lindas Reisetasche gepackt auf dem Boden, bereit, falls sie sich rasch davonmachen mussten.
Linda lag auf ihrer Bettdecke, den Kopf auf einem Kissen. Die Schuhe hatte sie nicht ausgezogen.
Tim hatte es sich in einem Sessel bequem gemacht. Er wollte sitzend schlafen.
Den Sessel hatte er in die Nähe der Tür gezogen, damit ihn jedes ungewöhnliche Geräusch im Flur aufweckte. Von dort aus hatte er auch den Vorhang vor dem Balkon im Blick.
Statt mit einer geladenen Pistole in der Hand einzuschlafen, hatte er die Waffe mit der Mündung nach unten zwischen Sitzpolster und Armlehne gesteckt. Von dort konnte er sie so rasch ziehen wie aus einem Holster.
Die Digitaluhr auf dem Nachttisch zeigte 1:32.
Aus dieser Entfernung und diesem Blickwinkel konnte Tim nicht sehen, ob Lindas Augen offen oder geschlossen waren.
»Schläfst du?«, fragte er nach einer Weile.
»Ja.«
»Was ist eigentlich aus deinem ganzen Zorn geworden?«
»Wann war ich denn zornig?«
»Nicht heute Abend. Aber du hast gesagt, du wärst jahrelang verbittert und zornig gewesen.«
»Aus einem meiner Bücher wollte man eine kleine Fernsehserie machen.«
»Wer wollte das?«
»Die üblichen Psychopathen.«
»Aus welchem Buch?«
»Herzwurm.«
»Den Titel kannte ich noch gar nicht.«
»Als ich einmal ferngesehen habe …«
»Du hast doch gar keinen Fernseher.«
»Das war in der Lobby von einem dieser Fernsehsender. Die zeigen dort ihre eigenen Sachen, den ganzen Tag lang.«
»Wie halten die das aus?«
»Ich nehme an, die jungen Damen am Empfang müssen häufig ausgewechselt werden. Was mich angeht, ich war zu einer Besprechung da. Auf dem Bildschirm lief die Nachmittagstalkshow. «
»Und du konntest nicht umschalten.«
»Oder irgendetwas gegen den Bildschirm schleudern. Alles in diesen Lobbys ist weich, da gibt’s keine harten Gegenstände. Du errätst sicher, warum.«
»Ich fühle mich schon wie ein Insider.«
»Sämtliche Gäste der Talkshow waren zornig. Die Moderatorin auch. Die war aus Mitgefühl zornig.«
»Weshalb waren sie denn zornig?«
»Weil sie Opfer waren. Man hatte sich ihnen gegenüber ungerecht benommen. Ihre Familien, das System, der Staat, ja, das Leben selbst war total unfair gewesen.«
»Aus dem Grund sehe ich mir lieber richtig alte Filme an«, sagte er.
»Und das Beste war: Einerseits waren diese Leute wütend, weil sie sich als Opfer fühlten, aber andererseits brauchten sie das auch. Wenn sie keine Opfer gewesen wären, hätten sie nicht gewusst, was sie darstellen sollten.«
»Ich wurde unter einem gläsernen Absatz geboren und habe immer dort gelebt«, zitierte Tim.
»Von wem ist das denn?«
»Von irgendeinem Dichter, den Namen weiß ich nicht mehr. Eine Frau, mit der ich eine Weile ausgegangen bin, hat mir erzählt, das sei ihr Motto.«
»Du bist mit einer Frau ausgegangen, die so etwas von sich gegeben hat?«
»Nicht besonders lange.«
»War sie gut im Bett?«
»Ich hab mich nicht getraut, das herauszufinden. Okay, da hast du also diese zornigen Leute in der Talkshow beobachtet. «
»Und mit einem Mal wurde mir klar, dass unter chronischem Zorn oft ein Sumpf aus Selbstmitleid verborgen liegt.«
»War denn unter deinem Zorn auch ein Sumpf aus Selbstmitleid? «, fragte Tim.
»Das hatte ich bis dahin nicht gedacht. Aber als ich es an diesen Leuten in der Talkshow gesehen habe, da habe ich es auch bei mir selbst erkannt, und mir wurde übel.«
»Das klingt nach einer regelrechten Offenbarung.«
»War es auch. Diese Leute liebten ihren Zorn, sie wollten für immer zornig sein, und wenn sie starben, dann waren ihre letzten Worte bestimmt irgendein selbstmitleidiges Gefasel. Ich hatte plötzlich eine Wahnsinnsangst, dass ich genauso enden könnte.«
»Du könntest nie so enden.«
»O doch, das könnte ich. Jedenfalls war ich auf dem besten Weg dorthin. Aber ich habe mich auf Entzug gesetzt.«
»Das kann man?«
»Wenn man erwachsen ist, schon. Leute, die ewig pubertär bleiben, nicht.«
»Hat man die Fernsehserie dann gedreht?«
»Nein. Ich bin gegangen, statt an der Besprechung teilzunehmen. «
Er beobachtete sie aus der Entfernung. Während des Gesprächs hatte sie sich überhaupt nicht bewegt. Ihre Ruhe
war mehr als Ruhe, es war die Gelassenheit einer Frau, die über allen Stürmen und Schattenseiten des Lebens stand oder sich
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