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Blutwind

Blutwind

Titel: Blutwind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Melander
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gut, wenn Kinder in so etwas verwickelt werden. Wie alt ist sie?«
    »Sechzehn, sie geht aufs Gymnasium.« Er sah Maria vor sich. Zwei Monate hatte er sie nicht gesehen. Wie würde sie reagieren? War sie wirklich wütend? Mit einem Mal machte es ihn nervös, dass sie zu ihm kommen sollte. Wie gut kannte er sie eigentlich … nachdem sie groß geworden war?
    »Du … wenn du heute Abend lieber mit deiner Tochter zusammen sein möchtest …« Sanne blickte zu Boden. »Ich dachte, vielleicht habt ihr Lust, zu mir zum Essen zu kommen? Also zu mir und meinem Freund?«
    »Klingt gemütlich, ich glaube …« Einen ganzen Abend mit einem mürrischen Teenager hielt er ohnehin nicht durch. Lars warf seinen Kaffeebecher in einen Mülleimer an der Promenade. »Weißt du was, wir kommen sehr gern.«

15
    Als Sanne zurück ins Präsidium kam, lag in ihrem Fach eine Mappe des Übersetzers. Zügige Arbeit, sehr beeindruckend.
    Erst in ihrem Büro nahm sie Originalbrief und Übersetzung heraus und legte sie vor sich auf den Schreibtisch. Dann stellte sie die Schreibtischlampe ein und fing an zu lesen:
    Liebe Mira,
    ich hoffe, dass mein Brief dich erreicht. Ich verstehe nicht, warum ich deine richtige Adresse nicht bekommen kann. Ich werde schon nicht nach Kopenhagen kommen. Ich bin nur so unruhig.
    Mira, ich weiß, dass du genauso bist wie ich. Du wusstest, worauf du dich einlässt. Aber du darfst dein Leben nicht verschleudern. Bald ist es zu spät. Bald kannst du keine normale Arbeit mehr verrichten. Die Straße verschlingt dich. Sie verschlingt dich und spuckt dich wieder aus, und es wird nichts mehr von dir übrig sein. Du weißt, ich bin dort gewesen, und Gott weiß, dass ich nie wieder dorthin zurück möchte. Ich flehe dich an, nein, ich bettele: Denk darüber nach.
    Du warst so hübsch, als du klein warst. Du hast in meinen Armen gelegen und geplappert. Es gab nur dich und mich auf der Welt. Könnte es nicht wieder so werden?
    Das wollte ich dir nur sagen. Komm nach Hause, mein Mädchen. Die Zeit vergeht viel zu schnell, und bevor man es weiß, ist es zu spät. Wenn du Geld brauchst, schreib. Ich werde sehen, was ich tun kann.
    Ich liebe dich
    Deine Mutter Zoe
    Sanne legte den Brief beiseite. Ulrik hatte Recht, der Brief verriet nicht viel über sie. Teile des Briefes klangen, als hätte sich Miras Mutter auch prostituiert. War das erblich? Sie verdrängte den Gedanken. Sie sollte lieber daran denken, was sie für Lars und seine Tochter kochen wollte. Etwas Leckeres, aber nicht zu Feines. Überraschende Alltagskost, etwa … Lachs oder frische Scholle. Etwas, was nach dänischem Sommer schmeckte.
    Sie musste Martin anrufen und ihm mitteilen, dass sie heute Gäste hatten.

16
    Ein Taubenschwarm flog von den Schienen auf und drehte in einem spitzen Winkel über Lygten. Die Linie F aus Hellerup rumpelte in die Nørrebro Station.
    Er hatte einen Knoten im Bauch und schwitzte. Angst, eine sechzehnjährige Gymnasiastin zu treffen. Schlechter ging es kaum. Aber Maria war der Mensch, den er am meisten liebte – und sie war stinkwütend auf ihn.
    Sie hatte ihm eine kurze SMS geschickt. Sie wollte mit der Linie F um 16:18 Uhr eintreffen, und obwohl sie geschrieben hatte, dass er sie nicht abholen müsse, wartete er, genau wie damals an ihrem ersten Schultag. Das kurze Aufblitzen einer Erinnerung an ein kleines Mädchen mit Kleid, Sandalen und Zöpfen an einem Regentag in Mørkhøj, dann war er wieder in der Nørrebro Station.
    Mikkel Rasmussens Hemd hatte er Toke überlassen. Es wurde in die Kriminaltechnische Abteilung gebracht. Brauchbare DNA zu bekommen war kein Problem. Sie hatten ihn. Eigentlich sollte er sich freuen.
    Vor ihm teilte sich die Menge. Eine Gestalt schälte sich heraus. Ein Körper drückte sich an ihn, die flüchtige Berührung einer Wange, dann zog sie sich zurück und stand abwartend vor ihm. Ihre hübschen, tiefbraunen Augen registrierten die Werbung, die Leute, die mit längst erloschenen Blicken an ihnen vorbeiliefen, den Zug, der sich wieder in Bewegung setzte … alles außer ihm.
    »Hallo«, versuchte er es. Maria murmelte irgendetwas als Antwort. Er wollte ihr übers Haar streichen.
    »Wollen wir hier Wurzeln schlagen?« Sie zog den Kopf zurück.
    Wann genau war alles so kompliziert geworden?
    Er lachte und hörte selbst, wie hohl es klang.
    »Nein, nein. Komm, es ist gleich da drüben«, antwortete er hastig und ging auf der Treppe zur Straße voran. Auf dem ersten Absatz blieb er stehen und

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