Blutwind
und Tochter handelte. Maria hörte auf zu lachen, strich ihr Haar zurück und sah ihn an. Lächelte sie?
»Sanne ist nett. Schade, dass sie mit Martin zusammen ist.«
Lars räusperte sich.
»Sie ist … nur eine Kollegin. Ich …« Er beendete den Satz nicht.
Maria sah ihn an. Dann wandte sie den Kopf ab und schaute aus dem Fenster. Den Rest der Fahrt sagte sie kein Wort mehr.
*
Er sitzt am Kopfende des Tischs und hat eine Kerze angezündet, Sonja und Hilda an beiden Seiten des langen Esstischs. Mutters feinste Damastdecke ist aufgelegt. Das Silberbesteck und das Möwen-Service. Am anderen Ende des Tischs ist Karens leerer Platz. Er lehnt sich zurück, sieht sich im Keller um. So soll es sein. Kein Gemecker, kein Streit. Die Suppe blubbert auf dem Herd. Das Durcheinander, die schlechten Zeiten sind vorbei. Er hätte früher reagieren müssen, es nicht durchgehen lassen dürfen. Aber er liebt sie doch, sie alle. So, wie man seine Familie liebt. Tief unten bebt etwas. Der Balancepunkt wird verschoben. Lorin Maazel und die Wiener Philharmoniker mit Agnes Baltsa auf dem Plattenspieler. Kindertotenlieder :
Oft denk’ ich, sie sind nur ausgegangen.
Bald werden sie wieder nach Hause gelangen!
Der Tag ist schön! O sei nicht bang!
Sie machen nur einen weiten Gang!
Nun überkommt ihn doch ein Gefühl der Trauer. Es ist schwer, auf diese Weise Abschied zu nehmen. Er wollte sie nicht bestrafen. Er spürt die Tränen aufsteigen. Wieder dieses Beben. Oben im Haus knarren die kräftigen Dielen. Jemand, der den Frieden stört? Eine Sten Gun steht an der Munitionskiste in der Ecke. Jetzt ist nichts mehr zu hören. Die Geräusche eines alten Hauses können einen verrückt machen. Nein, Moment. In ihm selbst knirscht es. Es knirscht in den Knochen. Der Spalt öffnet sich. Sonja und Hilda ducken sich. Sie wissen, was kommt. All das Dunkle und Schwarze. Flammen schlagen aus dem Spalt. Er schließt die Augen. Versucht sich zu konzentrieren. Ruhe. Von dort kommt er her. Es pocht hinter seiner Stirn, sie droht zu zerspringen. Er schwankt auf seinem Stuhl. Die Bilder bedrängen ihn, Bilder, die er längst verdrängt hatte. Mutter steht nicht mehr auf, sie liegt oben in der Kammer unterm Dach, in dem alten Dienstmädchenzimmer, und redet wirr. Die Dinge, die sie sagt, schreckliche Dinge. Falsche Dinge. Er ist stark. Wie Vater oder Großvater. Nicht schwach, nicht wie sie. In ihm schwillt das Gebrüll an. Er will seine Ruhe haben. Es knarrt und kracht und gibt nach, wenn er presst. Der Spalt schließt sich wieder. Die Flammen erlöschen. Nur eine kleine Blase von dem Schwarzen und Dunklen bleibt zurück, schwebt in ihm. Er verfolgt sie durch seinen Körper, durch den Bauch, die Brust, den rechten Arm, die Armbeuge … Dann hat er sich wieder gefangen. Die Suppe rettet ihn. Sie kocht über. Die kochend heiße Flüssigkeit löscht die Gasflamme. Er springt auf, dreht den Herd ab. Schimpft mit Sonja und Hilda, die ihm nicht Bescheid gesagt haben. Setzt sich wieder. Tief durchatmen. Macht euch nichts aus Vaters kleinen Eigenheiten. Er nimmt ihre Teller und füllt sie mit dem alten Schöpflöffel. Es ist serviert. Er zieht den Stuhl unter dem Tisch hervor, setzt sich. Kohlsuppe, Mutters Rezept. Dann kommen ihm Zweifel. War es wirklich nur Karens Schuld? Egal. Alles ist viel besser geworden, obwohl es auch schmerzt. Es ist nicht einfach, wenn sie das Nest verlassen. Er isst noch einen Löffel. Die gute Stimmung von vorhin will sich nicht wieder einstellen, als würde etwas fehlen. Sonja und Hilda. Natürlich vermissen sie Karen. Aber daran müssen sie sich gewöhnen. Sie kommt nicht wieder. Erst als er ihre Augen in die Schale vor ihrem leeren Platz legen will, bemerkt er es. Ein Auge ist verschwunden, das grüne. Er muss es verloren haben, als er sie zurückgab.
Einen Moment hängt er seinen Gedanken nach und vergisst die Suppe. Vielleicht sollte man darüber nachdenken, sich eine neue Kleine zu besorgen?
August 1944
Sie stellt den letzten Teller auf das Abtropfgestell. Gießt die Schüssel aus und sieht zu, wie das schmutzig braune Wasser unter lautem Rülpsen in den Abfluss gurgelt. Es spricht über all das Widerliche, das sie in der Nacht heimsucht. Das die knarrende Treppe hinaufkriecht, in ihre kleine Kammer. Die rostigen Angeln der Tür kreischen, und …
Sie wirft die Bürste in die Schüssel und stellt sie unter den Spülstein. Das alles gehört zur Vergangenheit. Nicht in die Gegenwart. In der Wohnstube klicken Mutters
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