Blutwind
wartete, bis sie neben ihm stand. Sie war mit ihrem Handy beschäftigt. Ihr Daumen strich in einem unfassbaren Tempo über die Tasten.
»Kannst du damit nicht noch ein bisschen warten?«
Sie reagierte nicht. Er warf ihr einen Seitenblick zu. Sie war ganz woanders. Nicht hier. Nicht bei ihm. Kurze abgeschnittene Jeans, Converse, schwarzes Bauernhemd und Rucksack. Das Haar war noch immer lang, die dunkelbraune Farbe hatte sie von ihm. Sie hatte ihr Gesicht abgewandt, aber mit der kleinen Stupsnase, den feinen Augenbrauen und dem etwas zu großen Mund sah es genau so aus wie in seiner Erinnerung. Hatte sie abgenommen? Wirkte sie nicht ein wenig hohlwangig?
Kaum hatte er aufgeschlossen, sah Maria sich in der Wohnung um.
»Soll das hier mein Zimmer sein?«
»Öh, wir streichen es natürlich, aber … ja, das hatte ich mir gedacht.«
»Und wo soll ich schlafen? Auf dieser Matratze?«
»Deine Mutter schickt uns morgen deine Sachen. Dein ganzes altes Zimmer. Ulrik hat dir ja alles neu gekauft, oder?«
Sie warf den Rucksack in eine Ecke und ließ sich in den alten Korbsessel fallen, außer der Matratze an der Wand das einzige Möbelstück im Zimmer. Das Weidengeflecht knarrte.
»Das kannst du gleich vergessen.« Sie richtete anklagend einen Finger auf die Zigarettenschachtel, die er aus der Tasche gezogen hatte. »Hier drin wird nicht geraucht.«
Er fummelte an der Schachtel herum und steckte sie wieder ein. Unglaublich, wie sie ihn herumkommandierte. Und kurz darauf ging ihm durch den Kopf: Man verdrängt ziemlich viel in zwei Monaten.
Sie streifte die Schuhe ab und zog die Beine unter sich.
»Zumindest ist es nicht weit zu Caro.«
»Caro? Ist sie von zu Hause ausgezogen?«
»Sie hat eine Wohnung in der Ørholmgade gemietet.« Maria sah ihn an. »Entspann dich. Mit ihrer Mutter hat es nur Streit gegeben. Und sie kannte jemanden, der den ganzen Sommer verreist ist.« Wieder konzentrierte sie sich auf ihr Handy, verschickte eine SMS .
Also nur zur Probe. Vielleicht war das gar nicht so schlecht? Mit Caro in der Nähe stiegen die Chancen beträchtlich, dass es Maria hier gefiel.
»Wir sind bei einer Kollegin zum Essen eingeladen«, sagte er. »Ich gehe noch mal auf den Balkon und … äh, rauche.«
»Geil«, sagte sie und verdrehte die Augen. Ihr Telefon piepte.
Lars schloss die Balkontür hinter sich und atmete aus. Die Zigarette steckte bereits zwischen seinen Lippen. Nur noch ein Streichholz und dann den Rauch tief in die Lunge.
Ein Audi fuhr in den Kreisel und schnitt einen klappernden Opel. Es wurde gehupt, einer zeigte dem anderen aus dem Fenster den Finger. Lars achtete nicht darauf. In seiner Wohnung vollzog sich gerade etwas, was ihn an eine feindliche Übernahme erinnerte, und er hatte keine Ahnung, wie er damit umgehen sollte.
Er sah auf die Uhr. Viertel vor fünf. Um sechs sollten sie bei Sanne sein. Er schnipste die Kippe auf die Straße und ging zurück ins Wohnzimmer.
»Ich nehme noch schnell ein Bad!«, rief er. »Wir gehen in einer halben Stunde.«
Die Badezimmertür war geschlossen. Als er an die Klinke fasste, merkte er, dass sie abgeschlossen hatte.
Im dritten Stock der Århusgade öffnete Sanne die Tür.
»Hallo, Sanne.« Lars reichte ihr die Flasche Wein, die er unterwegs bei Føtex gekauft hatte. »Maria … Sanne«, stellte er die beiden vor und schob Maria vor sich her. »Es riecht gut!«
»Danke«, sagte Sanne. »Ich hoffe, ihr mögt Fisch. Es gibt Scholle.«
Der Abend verlief weit besser, als er zu hoffen gewagt hatte. Bei Sanne taute seine mürrische Tochter auf; während des Essens hörte er sie lachen und alberne Geschichten über ihre neuen Lehrer am Øregård-Gymnasium erzählen. Und als Maria in Sannes Freund Martin einen Monty-Python-Fan entdeckte, war es um sie geschehen.
Direkt nach dem Essen verschwanden Maria und Martin ins Nebenzimmer vor den Flachbildschirm, um sich die letzte Gesamtausgabe der originalen Fernsehshows der BBC anzusehen. Sanne und Lars räumten auf.
»Wie läuft’s mit der Vergewaltigungsgeschichte?« Sanne spülte die Teller ab und stellte sie in die Spülmaschine. Lars kam mit der letzten Schüssel. Er erzählte von der Hausdurchsuchung und dem Hemd mit den Blutflecken.
»Das ging aber schnell.«
»Uns hat das Internet geholfen.« Er erklärte, wie sie Mikkel Rasmussen auf die Spur gekommen waren. »Leider ist er wie vom Erdboden verschwunden. Vermutlich sitzt er in irgendeinem Loch und versteckt sich.«
Sanne nickte und spülte die
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