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Blutwind

Blutwind

Titel: Blutwind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Melander
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Stricknadeln. Vater liest Krankengeschichten. Sie verderben sich die Augen in dem gelben Licht der Petroleumlampe. Die Verdunkelungsgardinen sind vorgezogen. Alle drei sind sie hier gefangen, alle drei und der Patient unten im Keller. Während draußen die Gespenster ihren Totentanz aufführen.
    Die Sturzsee an Pflichten macht ihr nichts mehr aus. Jetzt hat sie etwas, worauf sie sich freuen kann. Im Keller wartet all das, was das Leben lebenswert macht. Sie wäscht sich die Hände, trocknet sie an der Schürze ab. Mit einem Tuch abgedeckt steht das Tablett bereits auf der Anrichte. Sie steckt den Kopf in die Wohnstube, nickt ihren Eltern zu. Vater schaut mit einem Grunzen auf und nickt zurück.
    Sie tanzt zurück in die Küche, nimmt das Tablett und trägt es zur Kellertreppe, tritt auf die erste, schiefe Stufe. Am Fuß der Treppe stellt sie das Tablett auf einen kleinen Tisch und öffnet die Geheimtür hinter der Vitrine zu einer weiteren Treppe. Dort unten, ganz hinten in dem Labyrinth von Regalen und Kisten, liegt er. Auf einem Lager aus Munition, Maschinenpistolen und Trotyl. Ein verwundeter Krieger samt seinem Werkzeug. Er blickt auf, als er ihre Schritte hört, seine Augen werden lebendig.
    »Hello, my blossom«, flüstert er und formt die Lippen zu einem Kuss.
    Sie errötet, stellt das Tablett auf eine Munitionskiste und schlägt nach der Hand, die ihren Schenkel hinaufgleitet. So ein Mädchen ist sie nicht. Sie will jetzt etwas über seine Heimat hören: Glennridding am Ufer des Ullswater im Lake District. Das Wirtshaus unten am See, die hohen Berge, die sich an allen Seiten auftürmen. Schmale, gewundene Pfade kleben an schwindelerregenden Berghängen. Sie kann alles vor sich sehen, so anschaulich erzählt er. Und all das Grün, die Aussichtspunkte am Heron Pike und Sheffield Pike, der lange z-förmige See, der sich nordöstlich durch die Berge windet. Der schneebedeckte Helvellyn, der sich über das Dorf erhebt, kalt und unzugänglich im Winter, aber warm und grasbedeckt im Sommer. All dies behält man gern im Herzen, wenn die Pflichten allzu schwer werden und es noch lange dauert, bis das Abendbrot hinuntergetragen wird.
    Über ihnen knarren die Bodendielen. Und im Süden, in Berlin und Hamburg, schmelzen Feuerstürme das Fleisch von den Knochen.
    »Erzähl, was passiert auf der Welt?«, sagt John. »Ich weiß, dass ihr die Nachrichten aus London hört.«
    Sie schüttelt den Kopf. Nicht jetzt, nicht hier. Das hier ist heilig, es darf nicht besudelt werden.
    »Du weißt, dass ich zurückmuss, nicht?« Er sieht sie an. Der Ernst in den grauen Augen färbt sie dunkel. »Es ist meine Pflicht. Mein Land, dein Land, sie brauchen mich.«
    All das weiß sie, aber er hat doch versprochen, sie mitzunehmen? Sie wollen gemeinsam nach Schweden fliehen und in England wie Mann und Frau leben.
    Sie beugt sich über ihn, ihr Busen ruht sanft auf seiner Brust – nicht zu fest, seine Rippen sind noch immer nicht verheilt –, und drückt einen Kuss auf seine kalten Lippen. Dann beginnt er zu erzählen, und während er erzählt, wird seine Stimme herzlich und seine Lippen bekommen Farbe. Genau so liebt sie ihn am meisten.
    Als sie ihn füttert, Löffel für Löffel von der guten, dicken Kohlsuppe, knarrt es oben wieder. Es wird nicht mehr lange dauern, bis er ganz gesund ist.
    Schließlich muss sie gehen, verspricht aber, morgen wiederzukommen. Er lacht über ihren kleinen Scherz. Dann formt er die Lippen zu einem Kuss. Doch sie schüttelt entschieden den Kopf. Sie lächelt, als sie die Treppe hinaufgeht, denn sie möchte nicht, dass er glaubt, sie sei ihm böse. Ein letzter schmelzender Blick, bevor sie aus dem geheimen Eingang wieder in den oberen Keller klettert.
    Sie schließt die Vitrine mit einem leisen Klicken hinter sich, greift nach dem Tablett. Sieht die Gestalt nicht, die zusammengekrümmt im Dunkel der Ecke hockt und noch ihre kleinste Bewegung mit Augen aus brennender Kohle verfolgt.

Dienstag, 17. Juni

17
    Irgendwo außerhalb seines Traums schnarrte das Handy. Er schlug die Augen auf, schwang die Beine aus dem Bett. Seine Hand tastete im Dunkeln über die Kommode. Nebenan hatte sich Maria gerade umgedreht. Hoffentlich war sie nicht aufgewacht.
    »Ja?«
    »Hier ist der Wachhabende, Jørgensen. Noch eine Vergewaltigung, am Fyens Ravelin draußen am Kastell. Toke und Lisa sind bereits unterwegs. Eine Streife wartet an der Ecke der Folke Bernadottes Allé und Grønningen und zeigt euch den Weg.«
    »Danke, ich

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