Blutwind
hielten sich hier stillende Mütter, spielende Kinder und Spaziergänger aus Nørrebro auf, die den Friedhof als Park nutzten. Sie aßen, rauchten, tranken Kaffee. Küssten sich. Nachts setzte sich jedoch etwas anderes, Archaischeres durch.
Lots of people talking, few of them know …
Ein Schatten löste sich aus dem Dunkel und glitt zwischen zwei Bäume, doch nur, um sofort mit einem imposanten Grabstein zu verschmelzen. Irgendetwas traf ihn an der Stirn und dem Handrücken. Noch einmal. Er blinzelte und wischte den Regentropfen mit dem Ärmel ab. Wo war er? Gebückt lief er in einem Bogen über den Rasen, bis er sich auf der anderen Seite des Grabsteins befand. Dort war niemand. Die Pistole zitterte.
Dann öffnete sich der Himmel, und das Wasser stürzte herab.
Der Lärm war ohrenbetäubend. Tausende Blätter schrien, von der Sintflut in Bewegung versetzt. Die Sicht verringerte sich augenblicklich auf ein paar Meter. Alles war eine einzige hellgraue bewegte Decke. Lars konnte nichts mehr hören, nur noch das Dröhnen des Regens.
Aber was war das? Konnte die Welt doch noch reden und den tosenden Regen übertönen? Es klang, als würde jemand pfeifen.
Es blieb keine Zeit, um Angst zu haben. Lars spurtete in Richtung des Geräuschs, er rutschte auf dem nassen Asphaltweg aus, gewann das Gleichgewicht wieder. Das Haar klebte ihm an der Stirn, Regen lief ihm in die Augen. Doch er rannte weiter, wehrte sich mit den Armen gegen Zweige, die ihm ins Gesicht schlagen wollten. Die Vegetation war hier kräftiger, dichter. Sie mussten in der Nähe des Jagtvej sein.
Und jetzt konnte er es durch den Regen hören. Das Geräusch eines Körpers, der durchs Gebüsch pflügt, gleichgültig gegenüber dem Lärm und der Zerstörung, die er verursachte. Lars rannte in diese Richtung, wischte sich mit dem Handrücken das Wasser aus den Augen, doch es war nutzlos. Sekunden später war seine Sicht wieder verschleiert. Und plötzlich stand die Friedhofsmauer vor ihm. Sie türmte sich regelrecht vor ihm auf. Er lief zu schnell, er konnte auf dem weichen, feuchten Untergrund nicht rechtzeitig stoppen und prallte dagegen. Der Schmerz explodierte in Nase, Knie und Ellenbogen. Kratzer an der Stirn und an den Händen. Verdammt. Wo war er? Ein Stück weiter rechts stand ein Maulbeerbaum. Die Rinde war abgeschält, das frische Holz leuchtete im Dunkeln. Irgendjemand war hier erst kürzlich hochgeklettert. Lars kletterte in den Baum, einen Meter, zwei Meter über der Erde. Dann konnte er über die Mauer blicken. Tatsächlich lag auf der anderen Seite der Jagtvej. Er überlegte nicht, stieg vom Baum auf die mit schrägen Dachziegeln abgedeckte Mauer, ließ sich ins Nichts fallen und landete mit beiden Füßen auf dem Bürgersteig. Er blickte über die Straße. Spiegelblank, nasser Asphalt, Pfützen, in denen Regentropfen im Scheinwerferlicht der Taxen bebten. Motorenlärm. Pizzabäckereien und Kneipen. Aber kein Mensch auf der Straße. Niemand.
Er schloss die Augen und hielt sein Gesicht in den Regen. Wünschte, er könnte fortgespült werden, verschwinden. Vergessen und vergessen werden.
In diesem Moment hörte es auf zu regnen.
August 1944
»Laura? Wir haben Gäste.« Vaters Stimme dröhnt durch das Treppenhaus. Sie versteckt das Familie Journal unter dem Kopfkissen, richtet ihr Haar und läuft die Treppe hinunter. Wer kann das sein? Warm und rot steht die Abendsonne im Schlafzimmerfenster der Eltern im ersten Stock. Der sanfte Gesang der Amseln steigt und fällt durch die Gärten der stattlichen Häuser. Es ist Zeit für den täglichen Gang in den Keller.
Vom Treppenabsatz schaut sie hinunter und bleibt abrupt stehen. Ein paar lange schwarze Stiefel direkt vor der Tür, der Schatten einer schwarzen Uniformmütze.
»Willkommen. Lange nicht gesehen.« Vater und Arno geben sich die Hand. Was macht er hier?
»Es ist eine Ehre, in Ihrem Heim empfangen zu werden!« Arno klemmt die Mütze unter den Arm, steht aufrecht.
»Komm her, mein Mädchen.« Vater winkt sie zu sich. Die Stufen scheinen unter ihr zu zerfließen. Die schwarze Uniform, die Stiefel schweben ihr entgegen. Sie will nicht, und doch muss sie. Arno streckt die Hand aus. Sie hat das Gefühl, als würde sie neben sich stehen und sehen, wie sie ihre Hand in seine legt. Wie sie sich die letzten Stufen der Treppe von ihm hinunterhelfen lässt.
Wenn er wegen John gekommen ist … Sie will diesen Gedanken nicht zu Ende denken. Sie tritt auf die unterste Stufe, schlägt den Blick
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