Blutwind
Uhr. Noch eine Stunde.
Lene stand mitten auf der Tanzfläche, eins mit der Masse aus beweglichem Fleisch. Lars musste zugeben, dass er beeindruckt war. Es sah wirklich so aus, als würde sie sich amüsieren. Schweiß lief ihr übers Gesicht. Sie ging völlig in der Musik auf, tanzte gut. Eine ziemlich große Gruppe von Burschen behielt sie im Auge, und bei Weitem nicht alle waren Polizisten in Zivil.
Den größten Teil des Nachmittags hatten sie mit der minutiösen Planung und dem Durchspielen des möglichen abendlichen Ablaufs verbracht. Sie hatten Szenarien entwickelt und an verschiedenen Stellen mit Überwachungsposten experimentiert. Lars, Toke und Lene waren vor ein paar Stunden sogar Lenes fiktiven Heimweg abgegangen, um sich ein Bild von der Sicht und den Markierungspunkten in der Dunkelheit zu machen. Die Kollegen mit den Nachtsichtgeräten und der Kommunikationsausrüstung, die sich in Hauseingängen, auf Dächern und an mehr oder weniger diskreten Ecken postiert hatten, hatten alle ihr go gegeben. Eine bessere Vorbereitung war kaum vorstellbar.
Doch es gab auch die Schattenseiten dieser minutiösen Planung. Beim Abendessen hatte Maria ein eher ernstes Gespräch begonnen, ein Gespräch, in dem es um ihren Verlust, ihre Gefühle und ihre Gedanken über die Scheidung ging, soweit er sich erinnerte. Und als er jetzt darüber nachdachte … hatte sie nicht auch von diesem Date erzählt, bei dem sie gewesen war? Wirkte sie glücklich? Er konnte sich nicht erinnern, er war viel zu sehr mit dem weiteren Verlauf des Abends beschäftigt, als dass er sich auf das Gespräch hätte konzentrieren können. Während der Pasta hatte Maria ihn angeschrien und mit der Gabel auf den Teller geschlagen, dass Fleischsoße und Spaghetti nach allen Seiten spritzten. Dann hatte sie sich auf der Toilette eingeschlossen und sich geweigert, wieder herauszukommen, bevor er gegangen war.
»He! Was macht der denn hier?«
Tokes Ausruf riss ihn zurück in die hochoktanige Präsenz des Penthouse. Ein alter Bekannter kam die Bar entlang und fixierte Lars mit gebrochenem Blick und einem halbleeren Glas Bier in der Hand. Das Bier schwappte auf die Hosenbeine und Schuhe zufälliger Gäste an der Theke.
Mikkel Rasmussen in volltrunkenem Zustand.
»Was … was macht ihr hier?« Mikkel Rasmussen, der nun direkt vor ihm stand, spuckte die Frage geradezu aus und kippte dabei gleichzeitig sein Glas aus. Der restliche Inhalt ergoss sich über ihn, ohne dass er es zu bemerken schien.
»He, was soll denn das?« Ein blonder Bursche in Kapuzenjacke und einem T -Shirt mit knallbuntem Aufdruck, der neben Toke stand, packte Mikkel Rasmussen.
»So.« Lars ging dazwischen und zog Mikkel zur Seite. Es sah nicht so aus, als hätte er sich die Haare gewaschen, seit er aus der Untersuchungshaft entlassen worden war. Kaum dass er sich umgezogen hatte. Der Gestank nach altem Schweiß und muffigen Klamotten übertönte die geradezu unverfrorene Mischung der Diskothek aus billigem Parfüm und Banane.
»Belästigt ihr beiden immer noch friedliebende Leute?«, hickste Mikkel so laut, dass die Umstehenden sich umdrehten.
»Wir müssen etwas tun«, flüsterte Toke. »Bevor er alles auffliegen lässt.«
Lars nickte, stellte die Cola ab und packte Mikkels Unterarm mit einem festen Griff.
»Komm her.«
»Ich werd dich …«
»Du tust jetzt, was ich sage.« Das tiefe Register, die kurzen, abgehackten Sätze, die plötzliche Entschlossenheit verfehlten nicht ihre Wirkung. Mikkel Rasmussen war so verblüfft, dass er ohne weitere Proteste mitkam. Am Ende der Bar beugte sich Lars über den Tresen und schrie dem Mädchen ins Ohr: »Habt ihr einen Hinterausgang?«
Das Mädchen nickte, wies über die Schulter und ließ Lars und Mikkel hinter den Bartresen kommen. In der mattschwarzen Wand leuchtete eine knallrote Tür auf. Lars öffnete sie und schob Mikkel vor sich her.
»Was soll ’n das? Du kannst doch nich’ einfach …«
»Du bist gerade im Begriff, eine polizeiliche Aktion zu verhindern. Ich kann mit dir machen, was ich will. Abflug!«
Er versetzte Mikkel einen Stoß, der mit vorsichtig tastenden Schritten die steile Treppe hinunterschwankte. Lars blieb direkt hinter ihm, zwang ihn weiterzugehen. Circa zwanzig Stufen weiter unten stand eine Tür zum Hof offen. Die Nachtluft war frisch nach dem widerlichen Gestank der Nebelmaschine der Diskothek. Er musste daran denken, die Betreiber zu bitten, sie auf ein Öl umzustellen, das weniger roch.
Leere
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