Blutwind
gesetzt.
Er steht unter der alten Blutbuche, die von den Kletterhortensien beinahe erstickt wird. Er ruft sie, mit gefalteten Händen und in Uniform. Die blanken Stiefel, die Reithose, die Uniformmütze. Warum kommt er so hierher? Sie will nicht mit einem Hipo-Mann, einem Handlanger der Gestapo, gesehen werden, auch nicht, wenn es sich um einen alten Klassenkameraden handelt.
Noch bevor sie ihn erreicht hat, fängt er an zu reden. Belegte Stimme, roter Kopf. Über sie und ihn, über die Zukunft, über Glück und Ehe, Kinder. Aber sie kann nicht … sie will nicht zuhören. Arno bettelt, er fällt auf die Knie, während die Spätsommernacht um sie herum so mild ist. Aber sie nimmt Arno nicht wahr, und sie weiß, dass Arno weiß, dass sie ihn nicht wahrnimmt, dass sie ganz woanders ist.
Und dann erhebt er sich, und sein Blick wird hart. Die Tränen haben dunkle Streifen auf seinen Wangen hinterlassen. Das Gesicht wirkt leichenblass in der hellen Nacht. Sie denkt an die Erscheinung, die sie in der Küche hatte. Sie will nicht, und doch muss sie hinsehen. Auf Arnos Hände, die sich öffnen … und auf das fürchterliche Geheimnis, das sie verbergen.
Zwei Augen mit meergrauen Pupillen, zwei Augen, die klar und lebendig sind, voller Erwartung und Liebe. Zwei Augen, die noch vor wenigen Stunden in ihrem Anblick ertrunken sind. Sie kann sich noch immer so sehen, wie John sie sah, widergespiegelt in der toten Iris und all dem Weißen, das in dem Haufen von Blut und durchgeschnittenen Nervenenden zwischen Arnos bebenden Fingern liegt.
Die Gartenpforte knarrt hinter Arno. Vater kommt zurück. Er nickt Arno kurz zu, vermeidet ihren Blick. Geht den Weg hinauf und verschwindet im Haus.
Nun weiß sie es.
Der Schrei kommt von ganz tief unten, er steigt auf aus ihrem Schoß. Bohrt sich durch das Fleisch, die Sehnen und Knochen, vorbei an dem kleinen Leben, das hinter ihrem Nabel wächst. Doch als der Blutwind die Mundhöhle erreicht, hat er keine Kraft mehr.
Es kommt nur noch ein schwaches Pfeifen. Das gleiche Geräusch, das die Mäuse morgens in Vaters Falle hinter dem Küchenschrank von sich geben.
Sonntag, 22. Juni
39
Die vielen Steintreppen hinauf zur Rotunde im 2. Stock, den langen dunkelroten Korridor entlang, durch die grüne Tür.
In der Abteilung war niemand zu sehen. Rasch ging er in sein Büro und schloss die Tür mit einem leisen Klicken hinter sich. Bald war es vorbei. Ihm würde es besser gehen, und die Abteilung konnte ihre tägliche Arbeit ohne ihn fortsetzen. Warum Kim A . sich überhaupt über ihn beschwert hatte, verstand er nicht. Er warf das Sakko über die Lehne des Stuhls an der Tür und ließ sich auf seinen Bürostuhl fallen. Die Hydraulik kreischte, die Verstrebungen knirschten. Offensichtlich freute sich der Stuhl auch, dass er verschwand.
Ein letzter Fall, dann war das Fest vorbei. Zehn Jahre hatte er hier gearbeitet. Jetzt war er glücklich, hier wegzukommen.
Er knallte die Füße auf den Schreibtisch, überlegte, ob er sich trotz des Rauchverbots eine Zigarette anzünden sollte. Noch immer hatte er einen Vergewaltiger zu verhaften. Er zwang sich, noch einmal die DVD s der Überwachungskameras vom Nørreport anzusehen. Möglicherweise gab es ein winziges Detail, eine mikroskopische Spur in der Art, wie er sich bewegte, oder an seiner Kleidung? Etwas, das mit wachen Sinnen betrachtet den Fall neu aufrollen konnte? Aber es gab keine plötzliche Klarheit. Der Blitz schlug nicht ein.
Noch immer stand ihm der gestrige Abend vor Augen. Die Zigaretten, der Wein und die Platten. Die Stones. Marias Freund, der Benson & Hedges rauchte. Irgendetwas mit dem Haar und den Augen, sein Benehmen. Lars stand auf und stellte sich ans Fenster.
Die Tür zu Marias Zimmer war geschlossen, als er heute Morgen aufgestanden war. Christians Jacke hing nicht im Flur. Seine Schuhe waren ebenfalls verschwunden, aber vielleicht hatte er sie mit in Marias Zimmer genommen? Er war sich nicht sicher, hatte er letzte Nacht die Tür gehört? Aus ihrem Zimmer war kein Laut gedrungen. Er hatte gezögert, er hatte mit erhobener Hand vor der Tür gestanden und sich nicht entschließen können anzuklopfen. Stattdessen war er ins Bad gegangen.
Die Kollegen trafen ein, sie liefen auf dem Korridor auf und ab, holten Berichte, plauderten, Verhaftete wurden zum Verhör gebracht. Niemand klopfte an seine Tür. Der Lockvogel war nicht seine Idee gewesen, er hatte sich sogar dagegen ausgesprochen, aber nichts blieb mehr kleben als ein
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