Blutwind
ihn.
»Wieso interessiert sich so ein junger Kerl für diese morbi…«
Plötzlich stand Maria im Zimmer. Keiner von beiden hatte die Tür gehört. »Was macht ihr denn hier? Ich dachte, wir wollten dein Abi feiern?« Ihre Augen waren groß und schwarz und starrten Christian an. Christian kam auf die Beine, strich sein Hemd glatt. Er schenkte ihr ein schiefes Lächeln.
»Wir hatten doch abgemacht, uns hier zu treffen?« Er versuchte sie zu küssen. Maria wandte das Gesicht ab.
»Ich habe über eine Stunde vor einer Flasche Wasser im ZeZe gesessen. Hast du nicht gesehen, dass ich angerufen habe?«
Lars streckte die Hand aus, wollte vermitteln. Maria blickte ihn an, und er ließ die Hand fallen. Auch er hatte eine Grenze überschritten, das war klar. Aber welche?
»Schatz.« Mit zwei langen Schritten war Christian in der Ecke, wo Lars den Blumenstrauß abgestellt hatte. »Der ist für dich.«
Maria warf den Kopf in den Nacken, roch dann aber doch an den Blumen. »Hmm.« Ihre Züge wurden weich. »Danke.« Sie gab ihm einen flüchtigen Kuss. »Komm.«
Sie verschwanden in der Küche und ließen Lars mit seinen Zigaretten, einer halbleeren Flasche Ripasso und seinen vierzig Jahre alten Platten allein im Wohnzimmer zurück.
Wahrscheinlich war es ohnehin Zeit, ins Bett zu gehen.
August 1944
Das Küchenfenster steht offen, die karierten Gardinen hängen still im lauen Spätsommerabend. Die Dämmerung setzt ein, allerdings klebt ein schwacher Widerschein des Sonnenuntergangs noch immer am Himmel. Sie sitzt auf einem Schemel in der Ecke am Ofen. Das Herz zerreißt ihr in der Brust. In dieser Nacht soll er rübergebracht werden. Vater hat ein Boot nach Schweden beschafft und mit einem der Fischer Ort und Zeit vereinbart. John will sie benachrichtigen, sobald sie nachkommen kann. Ihr Kopf ist leicht, aber im Bauch hat sie so ein sonderbares Gefühl, als wollte irgendetwas in ihr zerbrechen.
Sie steht auf, folgt mit einem Finger dem Messingrohr, das sich um den schwarzen schmiedeeisernen Ofen zieht, und zuckt bei dem plötzlichen Anblick im Halbdunkel zusammen. In der Ecke hinter dem Ofen ein leichenblasses Gesicht, dem Blut über die Wangen läuft.
»John?«, flüstert sie. Sie beißt die Zähne zusammen. John liegt auf dem Boden eines kleinen Fischerboots auf dem Øresund. In einer Stunde ist er in Schweden in Sicherheit, und in ein, zwei Monaten liegt sie wieder in seinen Armen. Auf dem Weg nach Stockholm oder London hört sie dann seinen albernen Oden auf ihre Augen zu. Sie schüttelt den Kopf. Niemand sonst findet solche Reime auf greyblue und green . Er ist der Erste, der ihren Schönheitsfehler erwähnen darf, ohne dass sie wütend wird.
Sie lacht vor sich hin. Jungmädchenfantasien, schwärmerisch wie das letzte purpurfarbene Licht, das jetzt am Himmel brennt.
Sie macht einen Tanzschritt, summt. Die Gardinen, das Geschirrtuch, sogar die Luft in der Küche duften noch nach den Frikadellen, die sie John und Vater in einem Korb mitgegeben hat. Aus der Wohnstube hört sie das beruhigende Klicken von Mutters Stricknadeln, die mit einschläfernder Regelmäßigkeit gegeneinanderschlagen. Alles ist ruhig, sagen sie. Nichts Böses kann uns erreichen. Was ist schon dabei, wenn um sie herum Nationen im Schutt versinken? Hauptsache, sie lieben sich, alles andere ist vollkommen gleichgültig.
Draußen im Garten klappt die Pforte. Kann es sein, dass Vater bereits zurückkommt? Die Schritte auf dem Gartenweg sind fest wie Vaters, aber federnder, schneller. Ein junger Mann? Das Herz hüpft ihr im Leib.
Nein. Er kann es nicht sein. Er würde nur zurückkommen, wenn etwas schiefgegangen ist. Und nicht für die gesamte Nachbarschaft sichtbar. Ihr John, ihr stolzer John, würde durchs Gebüsch ganz hinten im Garten gekrochen kommen, aus dem Moor, wo niemand ihn sehen kann.
Jetzt hört sie den Türklopfer auf dem Messingbeschlag. Mühsam erhebt sich Mutter im Wohnzimmer und legt ihr Strickzeug beiseite. Sie selbst steht reglos in der Küche und wünscht, dass die Zeit stillstehen möge.
Mutters Stimme flüstert durchs Haus. Es ist für sie. Arno. Ob sie mit in den Garten kommen möchte?
Wie eine Schlafwandlerin verlässt sie die Küche, mit schweren Schritten in ihren zerschlissenen Holzschuhen. Sie blickt zu Boden, das Blut ist eiskalt. Sie will nicht. Und doch muss sie. Sie kann nicht. Aber sie muss. Mutter sieht ihr nicht nach, sie hat sich mit ihrem Strickzeug bereits wieder in ihren bequemen Sessel in die Ecke
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