Blutzeichen
Mund.
Er geht bis zum Ende des Flurs, während sich seine Augen immer besser an die schwarzblaue Dunkelheit gewöhnen. Von hier hört man das elektrische Schnaufen der Küche nicht mehr, doch es gibt andere Geräusche: das Toilettenwasser läuft, aus einem Duschkopf tropft es ins Keramikbecken, drei Menschen atmen tief und ruhig. Zu dieser Vorstadtschlafmusik flüstert die Zentralheizung so gleichmäßig wie der Herzschlag seiner Mutter.
Luther steht im Flur, kratzt sich Popcornreste aus den Zähnen und denkt, sie brauchen diese Geräusche. Ohne sie würden sie verrückt werden. Sie glauben, das wäre Stille… sie haben keine Ahnung, was Stille ist.
Er betritt den ersten Raum auf der rechten Seite, ein Badezimmer. Er öffnet den Medizinschrank über dem Waschbecken und holt eine Schachtel Zahnseide mit Weintraubengeschmack heraus. Nachdem er sich die Zähne zu seiner Zufriedenheit gereinigt hat, stellt er die Zahnseide wieder zurück und schließt den Schrank. Zurück auf dem Flur, geht er auf Zehenspitzen über den Teppich in den ersten Raum auf der linken Seite.
Auf der Tür klebt ein orangeschwarzer Aufkleber mit der Aufschrift: »Privat – Zutritt verboten«, darunter steht in mittels Schablone aufgemalten Buchstaben: »Hanks Versteck«.
Das Zimmer ist aufgeräumt – kein Spielzeug auf dem Boden, die Sitzsäcke in den Ecken. Ein Dutzend Modellflugzeuge und Hubschrauber hängen an Drähten von der Decke. Auf dem Schreibtisch steht eine fast fertig gebaute B-25. Nur die Flügel und die Kanzel müssen noch festgeklebt werden.
Er riecht den Klebstoff. Auf dem Schrank steht eine Reihe Footballpokale aus vergoldetem Plastik, die alle auf den Jungen im Bett ausgerichtet sind. Luther liest die Gravur auf dem Fuß einer der Trophäen.
Hanks Mannschaft nennt sich »Die schnelle, bissige Kampfmaschine«.
Letztes Jahr hat er den Pokal für Teamgeist gewonnen.
Luther nimmt den Rucksack ab und legt sich neben den Jungen auf die mit Sternbildern bedruckte Bettdecke. Der Junge schläft auf der Seite, der Rücken ist dem Eindringling zugewandt. Luther betrachtet ihn einen Moment lang im Schein der orange glühenden Nachtlampe und überlegt, was es für ein Gefühl sein muss, einen Sohn zu haben.
Da der Junge träumt, ist sein Genick leichter zu brechen als das seines Bruders.
Luther steht auf und öffnet den Rucksack. Er holt die Pistole, die Handschellen, den Kassettenrekorder und Orsons Jagdmesser hervor. Die Pistole ist nicht geladen. Schalldämpfer sind schwer zu kriegen und in einer Nachbarschaft wie dieser wird er unter keinen Umständen um zwei Uhr morgens eine .357er abfeuern.
Er lässt die Handschellen in seine Tasche gleiten, geht zurück auf den Flur und erreicht schließlich die Schwelle zum Elternschlafzimmer, in dem Zach und Theresa Worthington schlafen.
Ohne Nachtlicht sind in diesem Raum nur Formen und Schatten zu erkennen.
Er würde jetzt gerne hier stehen bleiben, von der Tür aus eine Stunde lang die beiden betrachten und die Vorfreude auskosten; doch ist dies heute Nacht nicht sein einziges Vorhaben, bevor in vier Stunden die Sonne wieder aufgeht.
Daher stellt Luther den Kassettenrekorder auf die Kommode und drückt den Aufnahmeknopf. Dann spannt er den Hahn der .357er und streicht mit seinem Latexfinger über den Lichtschalter, schaltet das Licht aber noch nicht ein.
Zach Worthington bewegt sich im Bett.
»Theresa«, murmelt er. »Trese?«
Eine Antwort im Halbschlaf: »Jaa?«
Luthers Lenden kribbeln.
»Ich glaub, eins der Kinder ist wach.«
13. Kapitel
Elizabeth Lancing konnte nicht schlafen. Sie war heute Abend zum ersten Mal mit Todd Ramsey ausgegangen und durchlebte nun ein breites Gefühlsspektrum, von Übermut bis Schuld. Todd hatte sie in das französische Restaurant The Melting Pot in Charlotte eingeladen. Zunächst hatte es ihr vor der Vorstellung gegraut, sich während eines Fondues drei Stunden lang unterhalten zu müssen, aber Todd war charmant und es war ganz leicht gewesen, mit ihm zu plaudern.
Zunächst hatten sie über die Anwaltskanzlei geredet, in die Todd gerade eingestiegen war und in der Beth bereits seit fünf Jahren als Testamentsvollstreckerin arbeitete. Erst hatten sie den Tratsch außen vor gelassen, doch da es in der Kanzlei Womble & Sloop immer hoch herging, waren die vielen Klatschgeschichten natürlich ein unwiderstehlicher Gesprächsstoff. Letztendlich war dies die Überleitung zu einem Gedankenaustausch über Arbeitsmoral gewesen und zu der
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