Blutzeichen
Schreibmaschine, einem Wörterbuch, einer Bibel, einem Thesaurus und dem Nordamerikanischen Baumführer der Audubon Gesellschaft zugestellt war.
In der mittleren Schublade fand er, wonach er gesucht hatte – lose, sorgfältig zwischen zwei Schachteln mit roten Filzstiften gestapelte Blätter. Horace setzte sich auf Andrews Stuhl und holte das Manuskript mit zitternden Händen hervor. Was um alles in der Welt hatte dieser Mann geschrieben?
Die Titelseite:
BRUDERHERZ
– eine wahre Geschichte von
Andrew Z. Thomas
Horace hörte draußen ein Geräusch, hielt den Atem an, um zu lauschen, und kam zu dem Schluss, dass es nur der Wind war, der durch die Fichten strich. Er legte das Titelblatt verkehrt herum auf den Schreibtisch und las das kurze Vorwort:
Die hier beschriebenen Ereignisse spielten sich in einem
Zeitraum von sieben Monaten ab, zwischen dem 16. Mai
und dem 13. November 1996.
*
»Ich ganz allein bin entronnen, um es dir zu berichten.« Ijob 1,17
Horace blätterte weiter zum ersten Kapitel und begann zu lesen.
An einem schönen Maiabend saß ich auf meiner Veranda und beobachtete, wie die Sonne über dem Norman-See unterging. Ein wundervoller Tag ging zur Neige. Ich war wie immer um fünf Uhr morgens aufgestanden, hatte mir starken französischen Kaffee aufgebrüht und das übliche Frühstück aus Rührei und einer Schale frischer Ananas zubereitet. Um sechs Uhr hatte ich angefangen und bis Mittag ununterbrochen gearbeitet.
10. Kapitel
In der North-Carolina-Nacht klettert Luther die Pinie hinab. Wieder auf festem Boden, schaut er auf die Uhr und klopft sich den Rindenstaub von den Jeans. Er schultert seinen Gregory-Rucksack, der das Werkzeug für sein Vorhaben enthält: breites Klebeband, Latexhandschuhe, eine .357er, einen kleinen Kassettenrekorder, ein Haarnetz, zwei Paar Handschellen, vier Reißverschlusstüten, einen Schärfstein und ein sehr spezielles Jagdmesser mit einer fast vierzehn Zentimeter langen Klinge und einem Griff aus Elfenbein. Er hatte das Messer vor sieben Jahren aus Orson Thomas’ Wüstenhütte mitgehen lassen. Er hütet es wie einen Schatz und überlegt, ob er ihm einen Namen geben soll.
Der Shortleaf Drive folgt eine Viertelmeile lang dem mondbeschienenen Seeufer und mündet auf beiden Seiten in Sackgassen. Die Häuser am See, über denen eine tiefe Vorstadtruhe liegt, stehen auf weiten, bewaldeten Grundstücken.
Während Luther die Straße entlanggeht, nimmt er sämtliche Geräusche wahr: ein paar zirpende Grillen, die zum Monatsende hin schweigen werden, ein Flugzeug, das in der Dunkelheit über seinen Kopf hinwegfliegt, das Tuten eines weit entfernten Zuges, das vom anderen Seeufer herüberschallt.
Die Worthingtons leben in einem von großen Eichen umrahmten Backsteinhaus im Farmhausstil mit tief heruntergezogenem Dach, dem vorletzten vor dem Ende der Sackgasse. Das Haus ist dunkel. Da die Rollläden nicht heruntergezogen sind, ist er versucht, sich in die Einfahrt zu setzen und durch die Fenster in jene Räume zu starren, die er bald bewohnen wird. Doch das tut man nicht um halb zwei morgens in einer Wohngegend. Daher geht er weiter die Auffahrt entlang und schlängelt sich zwischen einem Volvo und einem Minivan durch.
Er schleicht an einer der Hausseiten entlang in den Garten. Der Rasen reicht bis zum See hinunter, wo ein morscher Steg zum Wasser führt. Mitten auf der Wiese steht eine riesige Eiche, auf deren starken Ästen in sechs Metern Höhe ein kunstvolles Baumhaus thront. An einem der Äste hängt eine Schaukel, und in dieser ruhigen Oktobernacht ist es so still, als wären alle Uhren stehen geblieben.
Luther kniet sich ins Gras unter das Fenster des Jungen, dankbar, im Schatten der alten Eiche zu sein und nicht im Licht des hellen Herbstmondes. Er öffnet seinen Rucksack und holt die Latexhandschuhe heraus. Nachdem er seine Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hat, streift er sich das Haarnetz über und steht auf.
Das Fenster reicht herunter bis zu seiner Taille.
Er späht hinein.
Der Junge schläft in seinem Bett. Eine Nachtlampe verbreitet auf der Wand neben der offenen Tür ein sanftes orangerotes Licht.
Von der Decke leuchten ganz schwach kleine Plastiksterne herab.
Luther zielt mit dem Laserpointer und ein roter Punkt taucht auf dem Kopfkissen des Jungen auf. Der Laserstrahl wandert auf sein Gesicht und verharrt auf einem Augenlid. Der Junge dreht den Kopf hin und her, reibt sich die Augen und ist wieder ruhig.
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