Blutzeichen
Sergeant Mullins schaute auf sie herab und strich sich über seinen dicken, dunklen Schnurrbart. Sie las den Zweifel in seinen Augen.
»Sie würden mir die Sache gerne aus der Hand nehmen, nicht wahr?«, wollte sie wissen. »Sie glauben nicht, dass ich – «
»Viking, ich würde Sie nicht von dieser Sache abziehen, selbst wenn Sie mich darum bitten würden. Jetzt sorgen Sie nicht dafür, dass ich es noch bedauere, einer Frau diesen Fall übertragen zu haben.«
Sergeant Mullins ging davon, während Vi stehen blieb und dem Rennen zusah.
Auf der anderen Seite des Flusses ließ Max sein Team gerade Hampelmänner machen.
Eine Läuferin humpelte vorbei, sie hatte Krämpfe, weinte und ihr Gesicht war ganz rot.
Vi wünschte, Sergeant Mullins hätte sie von diesem Fall abgezogen, ihr wurde ganz heiß vor Selbsthass und Scham.
28. Kapitel
In dem braunen Hefter mit der Beschriftung »DIE MINUTEN« fand ich schließlich folgende Tagebucheinträge.
Es war 1.30 Uhr und meine Augen brannten vor Anstrengung.
Der Mond stand genau über mir und ich lehnte mich zurück gegen die kalte Windschutzscheibe, um in dem schwachen Licht Orsons Gekritzel zu lesen.
Woodside. Vermont: 1. November 1992
Saß den ganzen Nachmittag in meiner Nische in der Kneipe und las die miserabelsten Seminararbeiten, die ich je beurteilen musste (Kaffee heute besser). Einziges Highlight eine Arbeit über Gladiatoren. Erstaunlich detaillierte Beschreibung der mittäglichen Exekutionen. Gut recherchiert. Verfasser offensichtlich sehr an diesem Thema interessiert. Hmm. Hab ihn mit einer Drei plus belohnt, denn um die Wahrheit zu sagen, war es immer noch ziemlicher Müll.
Woodside. Vermont: 6. November 1992
Hab heute während der Vorlesung unseren Exekutionsexperten aufgerufen. Werd es nie wieder tun. Er wurde rot, konnte weder antworten noch mich anschauen. Hab ihn beim Verlassen des Hörsaals angesprochen und mich dafür entschuldigt, ihn in Verlegenheit gebracht zu haben. Was für ein sonderbarer Kerl! Hab ihn gefragt, ob er Bier mag. Hat die Frage verneint. Kaffee? Nein. Schließlich habe ich ihn einfach gefragt, was zum Teufel er denn mögen würde, worauf er dümmlich gelächelt und Pfannkuchen gesagt hat. Morgen essen wir Pfannkuchen.
Woodside. Vermont; 7. November 1992
Hab mich mit diesem jungen Luther im Champlain Diner getroffen. Haben statt einem Abendessen ein Frühstück zu uns genommen. Glaube, er war misstrauisch, warum ich ihn außerhalb der Uni treffen wollte. Die ersten zwanzig Minuten hab ich ihn mit einem Fragenkatalog zu Tode gelangweilt, unter anderem, woher er käme, wo er in Woodside lebte, ob ihm das College gefiele… es war schrecklich für ihn, also habe ich erwähnt, dass mir seine Semesterarbeit gut gefallen habe. Das heiterte ihn auf und er begann alle möglichen Fragen zu den Gladiatorenkämpfen Caligulas zu stellen. Hab von meiner Doktorarbeit erzählt und einige meiner Theorien erläutert. Er war sehr beeindruckt. Wir warteten darauf, dass die Kellnerin die Quittung bringen würde, als diese Frau an unserem Tisch vorbeikam. Echt hübsches Ding. Beobachtete Luther, wie er sie beobachtete, und sah es. Schwer, es in Worte zu fassen. Sagen wir einfach, ich spürte es in den drei Sekunden, in denen seine Blicke den Bewegungen dieser Woodside-Schönheit folgten. Als er mich wieder anschaute, musste ich einfach lächeln. Seine schwarzen Augen… sahen aus wie die eines Reptils. Ich dachte, Luther würde etwas sagen, aber er wurde lediglich rot. Er ist dafür geeignet.
Woodside. Vermont: 9. Dezember 1992
Letzter Tag vor den Ferien. Habe seit einem Monat nicht mit Mr Kite gesprochen. Beim Verlassen des Hörsaals habe ich ihm gesagt, dass ich mich darauf freue, ihn nächstes Semester wiederzusehen. Sagte, er käme nicht mehr. Sei durchgefallen. Wieder dieser schüchterne, verschämte, kleine Junge. Sah zu, dass ich seine Heimatadresse bekam. Vielleicht nehme ich ihn nächsten Sommer mit in die Wüste.
O cracoke Island. North Carolina: 11. Juni 1993
Bin LK zwei Tage lang über die Insel gefolgt. Was für ein Spaß! Lebt bei seinen Eltern in einem alten Steinhaus direkt an der Küste. Ist gestern Abend um 10.30 Uhr alleine spazieren gegangen. Wenn er heute Abend wieder loszieht, schnappe ich ihn mir.
29. Kapitel
In Swan Quarter nahm Vi die letzte Fähre des Tages. Nachdem das Schiff abgelegt hatte, griff sie nach dem muffigen Brotlaib, den ihr Max mitgegeben hatte, und stieg aus dem
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