Boardwalk Empire
zahlreichen Tageszeitungen des Bundesstaats abgedruckt wurde, hieß es:
Schon wieder führt man die Öffentlichkeit hinters Licht, und dieses Mal handelt es sich um den größten Betrug aller Zeiten. Man will uns glauben machen, dass der Staat daran gesundet, dass man Bauern, Angestellten, Geschäftsleuten, Hausfrauen und Rentnern beim Kartenspiel, beim Roulette, beim Black Jack und an den Spielautomaten (bisher musste man dafür nach Nevada fliegen) das Geld aus den Taschen zieht. Dieser Schwindel wird uns von Atlantic City aufgetischt, dessen Politiker uns weismachen wollen, dass ein Jahrhundert voller Rassismus und Korruption in Politik und Polizei, Ausbeutung der Armen, Prostitution und allgemeiner Sittenlosigkeit durch die Installation von Glücksspiel rückgängig gemacht werden kann. Und dass zukünftig nur noch Edelleute nach Atlantic City reisen und aus Absecon Island ein Domizil der Noblen, Aufrichtigen und Wohlhabenden wird.
Leider ignorierten die Befürworter der Legalisierung diese Stimmen und vergeudeten dadurch die ersten sechs Monate ihres Wahlkampfs. Auch wenn Atlantic City in der Vergangenheit ein Ort des Glamours, des Trubels und der Marktschreier gewesen war, blieb sie doch auf gewisse Weise eine unaufgeregte Stadt. Die siebzigjährige Herrschaft eines korrupten Ein-Parteien-Systems hatte die Leute selbstzufrieden und träge werden lassen. Sie verließen sich darauf, dass die Politiker oder Racketeers früher oder später ihre Probleme lösten.
Innerhalb der Bevölkerung gab es kein soziales oder politisches Engagement. Politik war die Sache von Experten wie Kuehnle, Johnson oder Farley. Mit dem Verschwinden des Wahlkreissystems ging der Gemeinde die politische Struktur verloren. Niemand wusste mehr, wohin mit seinen Problemen.
Als die Glücksspiel-Lobby sich im Juli 1974 endlich organisierte, ging das nur halbherzig vonstatten. Ein Meinungsforscher, den man extra für den Wahlkampf eingestellt hatte, warnte vor einer äußerst knappen Entscheidung, aber niemand hörte auf ihn. Das Spendenziel von einer Million Dollar wurde nie erreicht und die Hälfte davon vorzeitig ausgegeben. Man konnte die angeheuerte PR-Agentur nicht halten und schaffte es auch nicht, provinzübergreifende Bündnisse zu schließen. Perskie, McGahn und andere reisten in einer Art Wanderzirkus durch New Jersey und debattierten mit Goldstein und den Kirchenvertretern, erreichten aber nichts. Die Zuhörer erhielten weder Handzettel, Briefe oder Anrufe, noch ging jemand von Tür zu Tür, um neue Anhänger zu gewinnen. Es gab keinen koordinierten Wahlkampf, es gab noch nicht einmal eine Zentrale außerhalb von Atlantic County. Es war eine Kampagne ohne gemeinsames Anliegen, ohne Leidenschaft und ohne Schlachtruf. Warum hätte also jemand für die Legalisierung des Glücksspiels stimmen sollen?
Der Bürgerentscheid scheiterte jämmerlich mit einem Rückstand von 40 0 000 Stimmen. Lediglich die Bezirke Atlantic und Hudson stimmten für den Antrag, ansonsten erlitt man vernichtende Niederlagen. Die alte Hure Atlantic City hatte einen weiteren Tritt in den Hintern bekommen. Die Einwohner waren verzweifelt, für sie war die gescheiterte Abstimmung das Schlusskapitel in der Geschichte ihrer Stadt. Wer es sich leisten konnte, mit seinem Betrieb aufs Festland zu ziehen, fing schon mal an zu packen. In den folgenden Wochen erfreute sich ein Autoaufkleber einer großen Beliebtheit, der das Elend der Stadt in wenige Worte fasste:
»Der Letzte auf der Insel macht das Licht aus!«
98 Aus einem Interview mit Richard Jackson.
99 Aus einem Interview mit Mildred Fox.
100 Atlantic City Press, 6. Januar 1974.
101 Atlantic City Press, 19. Dezember 1973.
102 Aus einem Interview mit Steven Perskie.
103 Atlantic City Press, 17. Oktober 1974.
104 Atlantic City Press, 16. Oktober 1974.
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Der zweite Anlauf
Es fing an zu regnen, als sie gerade aus dem Bus stieg, und sie hatte ihren Schirm daheim gelassen. Sie musste eigentlich nur zwei Blocks laufen, aber ihre Hüfte machte ihr zu schaffen, und als sie beim Rathaus ankam, war sie bereits patschnass. Lea Finkler war aus New York City hierhergezogen, aber man kannte und schätzte ihr Engagement für die Senioren der Stadt. Im Alter hatte sie einen leichten Buckel bekommen, doch ansonsten war sie eine schmale, zerbrechlich wirkende Person mit blassem Teint und einer grauen Kurzhaarfrisur. Sie trug eine Brille, und ihre Kleidung war abgenutzt. Trotz ihrer gebückten Haltung wirkte sie wie
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