Boardwalk Empire
jemand, mit dem man sich besser nicht anlegte.
Lea Finkler war ein »Grauer Panther«, lange bevor man diesen Begriff auf politisch aktive Rentner und ihre Interessenverbände anwendete. Leas Verachtung für Politiker war stadtbekannt, und die Amtsträger zuckten schon zusammen, wenn sie nur ihren Namen hörten. An diesem Tag mischte sie sich bei einer Stadtratssitzung ein und beklagte sich über die Straßenkriminalität. Erst vor zwei Tagen war eine ihrer Freundinnen am helllichten Nachmittag vor ihrer Wohnung von Jugendlichen überfallen und ausgeraubt worden. Lea tobte: »Wir sind hier Gefangene. Schon seit Jahren kann man abends nicht mehr unbehelligt auf die Straße oder den Boardwalk gehen. Jetzt kann man selbst tagsüber kein Brot und keine Milch mehr kaufen. Was wollt ihr Schlafmützen dagegen unternehmen?« 105
Wieder einmal protestierte sie lautstark, aber keiner hörte ihr zu. Der Stadtrat kannte Leas Beschwerden zur Genüge, sie gingen zum einen Ohr hinein und zum anderen wieder hinaus. Nach ihrem zornigen Auftritt bat einer der Stadträte sie, sich zu beruhigen, und versprach ihr, mit der Polizei zu reden. Er teilte ihr mit, dass es keine schnellen Lösungen gäbe, dass man zunächst die Wirtschaft stärken müsse, und das ginge eben nur durch die großen Spielkasinos. Man arbeite bereits an einem neuen Bürgerentscheid, und nach dessen Gelingen seien die Straßen auch wieder sicher. Sie möge doch lieber mit ihren Freunden die Legalisierung des Glücksspiels vorantreiben, statt Amtsträger zu beleidigen. Lea Finkler beeindruckte diese Empfehlung herzlich wenig, und sie trat zutiefst verärgert den Heimweg an.
Wem es ernst mit dem Wiederaufbau der Stadt war, der glaubte auch weiterhin an die Kasino-Industrie. Zwar war der erste Bürgerentscheid ein Debakel gewesen, aber die Befürworter hatten einiges daraus gelernt. Die Monate nach der Niederlage verbrachten sie damit, die Gründe zu analysieren, und schon bald fand man die Antworten. Joe McGahn und Steven Perskie hatten die Angst der Wähler vor Glücksspiel unterschätzt. Sie waren zu sehr auf den Ruf Atlantic Citys bedacht gewesen, weil sie nicht wollten, dass man die Stadt als habgierig abstempelte. Umfragen nach dem Bürgerentscheid ergaben, dass die Bürger vielmehr befürchteten, das Glücksspiel halte bald überall im Bundesstaat Einzug.
Eine weitere falsche Hypothese war gewesen, dass die Bürger den Privatbesitz von Kasinos ablehnten. Man hatte angenommen, dass staatliche Kasinos das Vertrauen der Wähler weckten, weil sie effektiver und ehrlicher betrieben wurden. Die Wähler waren anderer Meinung: Sie wollten keine Bürokraten in der Glücksspielbranche, sie trauten nur der Privatwirtschaft zu, erfolgreich Geld in die Kasinos zu investieren. Dank dieser Erkenntnisse konzipierte man einen neuen Antrag, bei dem man das Glücksspiel auf Atlantic City beschränkte und den privaten Betrieb von Kasinos erlaubte. Die Wähler sollten noch einmal unter günstigeren Voraussetzungen befragt werden. McGahn und Perskie wussten allerdings, dass dies nicht genügte.
Einige Monate vor dem Bürgerentscheid von 1974 predigten die Kirchenmänner von New Jersey vehement gegen das Übel des Glücksspiels an. Die Geistlichen und Priester waren ernst zu nehmende Gegner, ihre düsteren Warnungen vor dem moralischen Absturz beeindruckten ihre Gemeinden, vor allem den älteren Teil, der garantiert gegen die Legalisierung stimmen würde.
Ein Geniestreich von Perskie und McGahn, wie ihn auch Nucky Johnson nicht besser hinbekommen hätte, war eine neue Klausel in ihrem Antrag, die gleichzeitig die Älteren von dem Unterfangen überzeugte und den kirchlichen Widerstand beseitigte. Sie fügten eine Klausel hinzu, die vorschrieb, dass ein Teil der Kasino-Umsätze mittels Steuerabgaben in einen speziellen Fond fließen musste. Dieser Fond sollte ausschließlich der Bezuschussung sozialer Einrichtungen und als Kompensation der Vermögensausgaben von älteren und behinderten Mitbürgern dienen. Wer also den Antrag ein zweites Mal ablehnte, stimmte nicht nur gegen den Sittenverfall und gegen eine Sonderbehandlung Atlantic Citys, sondern auch gegen staatliche Hilfe für Alte und Behinderte. Sie waren plötzlich das Herzstück der neuen Kampagne. Eine bessere Strategie hätte Atlantic City nicht finden können.
Von Anfang an wurde der zweite Bürgerentscheid mit großer Dringlichkeit behandelt. Als die Befürworter zum zweiten Versuch antraten, war das für die
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