Bob und wie er die Welt sieht
über dem Hinterrad nur noch zur Hälfte vorhanden. Aber es fuhr.
»Ist es straßentauglich?«, fragte ich Rita.
Sie zuckte mit den Schultern: »Glaub’ schon. Der Vorbesitzer hat gesagt, die Bremsen sollten mal überprüft werden, aber das ist alles.«
Meine Gedanken überschlugen sich, und Rita sah mir das wohl an.
»Du kannst es ja mal ausprobieren.«
»Ja, warum nicht?«, stimmte ich ihr begeistert zu. »Kannst du mal auf Bob aufpassen?«
Ich war zwar kein Bradley Wiggins, aber als Kind und auch später in London bin ich immer gern Fahrrad gefahren. Vor ein paar Jahren hatte ich sogar einen Kurs für Fahrradbau gemacht, das gehörte damals zu meinem Rehabilitationsprogramm. Ich war also nicht ganz hilflos, wenn es um Fahrradreparaturen ging. Schön, dass dieser Unterricht nicht ganz umsonst gewesen war.
Ich holte Bob von meiner Schulter und übergab seine Leine an Rita. Dann schnappte ich mir das Rad und stellte es kopfüber hin, um es besser überprüfen zu können. Beide Räder hatten genug Luft, die Kette war gut geölt und lief leicht und locker über die Zahnräder. Nur der Sattel war etwas zu niedrig für mich, aber das war mit einem Handgriff behoben. Dann schob ich es auf die Straße für eine Testfahrt. Die Gänge ließen sich nur schwer schalten und die Vorderbremsen funktionierten kaum, genau wie Rita gesagt hatte. Auch wenn man sie mit aller Kraft anzog, schafften sie es gerade mal, die Fahrt zu verlangsamen, aber zum Stehen brachten sie das Fahrrad nicht. Wahrscheinlich waren die Bremszüge ausgeleiert. Das konnte ich reparieren. Die Hinterradbremsen dagegen waren tadellos. Was wollte ich mehr?
Ich berichtete Rita vom Ergebnis meiner Testfahrt. »Und was heißt das jetzt?«, wollte sie wissen.
»Dass man es fahren kann«, antwortete ich. Meine Entscheidung war gefallen. »Weißt du was? Ich gebe dir ’nen Zehner dafür.«
»Echt? Bist du sicher?«, fragte sie verblüfft.
»Aber ja«, gab ich zur Antwort.
»Okay, abgemacht! Aber den hier brauchst du auch noch«, stimmte sie zu und fischte unter ihrer Transportkarre einen ziemlich verbeulten schwarzen Fahrradhelm hervor.
Ich habe schon immer alles eingesammelt, was andere Leute wegwarfen. Meine Wohnung sah früher aus wie ein Trödelladen, vollgestopft mit Kuriositäten, von der Schaufensterpuppe bis zum Straßenschild. Aber das hier war etwas anderes. Es war meine erste sinnvolle Investition seit langer Zeit. Das Fahrrad würde mir in Tottenham gute Dienste leisten. Ich konnte es für kurze Strecken in der Umgebung nutzen, zum Einkaufen oder für Arztbesuche. Die zehn Pfund würde ich durch eingesparte Busfahrkarten schnell wieder herausholen. Für die weiten Wege wie zur U-Bahn-Station Angel oder in die Innenstadt von London würde ich natürlich weiter den Bus oder die U-Bahn nehmen. Auf den Hauptverkehrsstraßen von London radzufahren wäre mir dann doch zu tückisch. Da gab es richtige Hotspots, an denen immer wieder Fahrradunfälle passierten.
Erst als ich in Gedanken die Wege durchging, die ich ab sofort mit dem Fahrrad zurücklegen konnte, bremste die wichtigste aller Fragen meinen Enthusiasmus.
»Wie kriege ich das Fahrrad bloß nach Tottenham?«
Im Bus sind Fahrräder genauso verboten wie in der Londoner U-Bahn. Die Busfahrer passen da genau auf, und im U-Bahnhof wäre spätestens an den Ticket-Kontrollschranken Schluss. Meine einzige Chance wären die oberirdisch fahrenden Straßenbahnen, aber keine davon fuhr auch nur annähernd in die Richtung meiner Wohnung.
Es gab nur eine Lösung. »Okay, Bob, sieht so aus, als würden wir beide heute nach Hause radeln«, erklärte ich meinem aufmerksam lauschenden Rotpelzchen.
Bob hatte sich neben Rita auf dem Boden lang hingestreckt und ließ sich die Sonne auf den Bauch scheinen. Aber er behielt mich im Auge. Als ich das Rad für die Probefahrt bestieg, neigte er den Kopf leicht zur Seite, als wollte er sagen: »Was ist denn das für ein seltsames Gebilde? Und warum setzt du dich da drauf?«
Als ich mir den Fahrradhelm aufsetzte, meinen Rucksack schulterte und mit dem Rad auf ihn zusteuerte, musterte er mich immer noch skeptisch.
»Na komm, Kumpel, steig auf«, sagte ich und beugte mich zu ihm hinunter, damit er auf meine Schulter klettern konnte.
»Na, dann viel Glück«, rief Rita uns hinterher.
»Danke, das können wir brauchen«, antwortete ich.
Der Verkehr auf der Islington High Street war mörderisch wie immer, es gab kein Durchkommen. Also schob ich das Rad eine Weile
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