Bob und wie er die Welt sieht
Nacken.
In den nächsten Tagen kehrte wieder Normalität in unseren Alltag ein. Bob und ich waren zurück in unserer Wohnung in Tottenham. Es war herrlich, ich konnte wieder normal laufen, und auch unsere kleinen Fahrradausflüge waren wieder möglich.
Am Ende gab es einen kleinen Anflug von Depression. Fünf oder sechs Tage nachdem ich die letzte Packung Subutex angefangen hatte, war nur noch eine Tablette übrig.
Ich nahm die ovale Pille aus der Aluminiumverpackung, legte sie unter meine Zunge und wartete, bis sie sich vollständig aufgelöst hatte. Dann spülte ich die Reste mit einem Glas Wasser hinunter. Ich zerknüllte die Verpackung zu einem Ball und warf ihn auf den Boden, damit Bob hinterherjagen konnte.
»Hier, Bob, das ist die letzte Subutex-Verpackung, die du zum Spielen kriegst.«
Ich machte mich auf eine schwierige erste Nacht gefasst und auf die bereits wohlbekannten Entzugserscheinungen: Albträume, Halluzinationen und ruheloses Herumwälzen. Ich werde nicht schlafen können , dachte ich. Aber nichts dergleichen geschah. Vielleicht hatte mich auch meine Angst vor dieser Nacht müde gemacht. Jedenfalls schlief ich sofort ein, als ich mich ins Bett gelegt hatte.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte und meine Sinne langsam wieder beisammen hatte, dachte ich: Oh, mein Gott! Das war’s. Ich bin jetzt clean. Dann sah ich aus dem Fenster. Der Himmel war leider nicht azurblau – ganz so klischeehaft war es dann doch nicht –, aber immerhin wolkenlos. Und genau wie an dem Tag, an dem ich kein Methadon mehr brauchte, wirkte er heller und seine Farbe satter.
Ich wusste, dass die kommenden Tage, Wochen, Monate, sogar Jahre nicht einfach sein würden. In jedermanns Leben gibt es mal Stress, Depressionen und Unsicherheit. Aber bei mir sind solche Gefühle gefährlicher als bei anderen, denn ich stehe dann sofort vor der quälenden Versuchung, etwas zu nehmen, um den Schmerz zu lindern oder meine Sinne zu betäuben.
Genau das war der Grund, warum ich mit Heroin angefangen hatte. Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit hatten mich in die schützende Gleichgültigkeit von Heroin getrieben. Aber diesmal wollte und würde ich stark bleiben. Mein Leben war zwar alles andere als perfekt, aber Millionen Mal besser als zu der Zeit, als ich mit den Drogen angefangen hatte. Damals gab es keinen anderen Gedanken als den nächsten Schuss. Jetzt konnte ich nach vorne blicken. Und weitermachen.
Ab diesem glorreichen Tag, an dem ich clean war, sagte ich mir jedes Mal, wenn ich schwach werden wollte: »O nein! Du bist nicht obdachlos, du bist nicht allein und das hier ist keine hoffnungslose Situation. Du brauchst das nicht.«
Ich war noch eine Zeitlang in psychologischer Betreuung, aber bald fühlte ich mich stark genug, ohne diese Hilfe auszukommen. Etwa einen Monat nach meiner letzten Tablette Subutex wurde ich aus dem Drogen-Rehabilitationsprogramm entlassen.
»Das war unsere letzte Sitzung«, sagte der Therapeut, als er mich aus dem Behandlungszimmer hinausbegleitete. »Melden Sie sich mal. Ansonsten viel Glück und gut gemacht.«
Er war ein netter Mann, aber ich bin stolz darauf, dass ich ihn seither nie wieder gesehen habe.
9
Bobs Nachtwanderung
W ir marschierten auf der Waterloo Bridge über die Themse nach Süden. Die Lichter der Houses of Parliament und des London Eye leuchteten hell in der dunklen Novembernacht. Es waren immer noch viele Menschen unterwegs, die meisten in die gleiche Richtung wie wir, weg vom West End und der Innenstadt, zu den Pendlerzügen der U-Bahn-Haltestelle Waterloo. Einige waren übermüdete Angestellte, die noch Überstunden geschoben hatten, andere, die mit der besseren Laune, kamen von einem netten Abend aus dem West End zurück.
Es war 22.30 Uhr, und sie alle waren auf dem Heimweg. Für mich und Bob dagegen war es der Beginn einer sehr langen Nacht.
Die Mitarbeiter von The Big Issue hatten mich überredet, an dieser neuen Veranstaltung teilzunehmen. Ich hatte schon vor ein paar Monaten etwas darüber in unserer Zeitschrift gelesen. Sie nannten es »Die große Nachtwanderung«, die am achtzehnten Geburtstag der Big Issue stattfinden sollte. Irgend so ein Werbefuzzi war der Meinung, ein 30-Kilometer-Fußmarsch durch die Straßen von London bei Nacht wäre eine tolle Idee.
Der Plan war, ganz normale Menschen gemeinsam mit einer Gruppe von The Big Issue -Verkäufern zwischen 22 und 7 Uhr morgens durch die leere Innenstadt wandern zu lassen, damit diese aus erster Hand etwas
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