Bob und wie er die Welt sieht
wurde ein Kollege im Schlaf nicht nur ausgeraubt, sondern sie haben ihm auch noch die Kehle durchgeschnitten.«
Ihr Gesicht wurde aschfahl. »Ist er gestorben?«, wollte sie wissen.
»Ich weiß es nicht. Ich bin weggelaufen, so schnell ich konnte«, sagte ich. »Das klingt jetzt vielleicht hart, aber auf der Straße muss jeder auf sich selbst aufpassen, um die Nächte zu überstehen. Man kämpft nur um das eigene Überleben. Das macht die Straße aus dir.«
Die Frau blieb stehen und starrte auf die Toreinfahrt. Es sah aus, als spräche sie ein kurzes, stilles Gebet.
Nach neunzig Minuten kamen wir am ersten Etappenziel an. Es war das Hispaniola , ein schwimmendes Restaurant auf der Nordseite der Themse an der U-Bahn-Haltestelle Embankment.
Ich nahm mir etwas heiße Suppe, und Bob schleckte zufrieden seine Milch, die ein netter Mensch tatsächlich für ihn organisiert hatte. Die Sache fühlte sich gut an, und ich rechnete schon mal die Kilometer aus, die ich bisher gelaufen war – und wie viele noch vor mir lagen.
Aber als wir das Schiff verließen, gab es einen kleinen Rückschlag. Bob hatte gerade entschieden, das Boot auf den eigenen vier Pfoten zu verlassen. Vielleicht, weil er aufgetankt hatte oder weil er wusste, dass mein Bein noch nicht zu 100 Prozent geheilt war. Als er vor mir her mit bis zum Anschlag ausgefahrener Leine die Rampe hinuntertrottete, stieß er fast mit einem anderen Big Issue -Verkäufer zusammen, der mit seinem Hund, einem Staffordshire Bullterrier, die Rampe hochkam. Der Hund ging sofort auf Bob los und ich musste mich mit ausgebreiteten Armen und Beinen dazwischenwerfen, damit er Bob nicht zerfleischte. Fairerweise muss ich sagen, dass der Hundebesitzer sein Tier sofort abkanzelte und ihm sogar auf die Nase schlug. Diese Kampfhunde haben wirklich einen schlechten Ruf wegen ihres aggressiven Verhaltens, aber ich glaube, auf diesen Hund traf das gar nicht zu. Er war nur neugierig gewesen, nicht bösartig.
Bob hatte das Erlebnis trotzdem einen ordentlichen Schrecken eingejagt. Danach kuschelte er sich eng um meinen Nacken, der ihm Sicherheit gab, ihn aber vor allem gegen die klirrende Kälte schützte. Von der Themse stieg eisiger Nebel auf, der sogar durch die Kleidung kroch und bis zur Haut vordrang.
Am liebsten wäre ich ausgestiegen, um Bob nach Hause zu bringen. Aber zwei von den Organisatoren, die ich darauf ansprach, baten mich inständig weiterzumachen. Zum Glück wurde es etwas wärmer, als wir endlich das Flussufer hinter uns gelassen hatten. Wir marschierten durch das West End und dann Richtung Norden.
Dabei kam ich mit einem jungen Paar ins Gespräch. Sie war ein hübsches, blondes Mädchen, und ihr Freund war Franzose. Sie wollten wissen, wie Bob und ich zusammengekommen waren. Das war mir nur recht. Diese Wanderung durch das nächtliche London förderte bei mir eine Menge unschöner Erinnerungen zutage. Die meisten waren zu grässlich und quälend für Worte. Als obdachloser Heroinabhängiger war ich gezwungen, die abscheulichsten Dinge zu tun, nur um zu überleben. Darüber wollte ich auf keinen Fall mit irgendjemandem reden.
Auf den ersten zehn Kilometern hatte ich keine Probleme mit meinem Bein. Außerdem war ich so abgelenkt von allem, was um uns herum vor sich ging. Aber je länger ich voranschritt, desto stärker spürte ich den altbekannten, pulsierenden Schmerz genau da, wo mein Blutgerinnsel gesessen hatte. Es war unvermeidlich, aber ärgerlich.
Eine weitere Stunde ignorierte ich es noch. Aber bei jedem Zwischenstopp mit heißem Tee stach der Oberschenkel mehr. Lange war ich unter den Spendensammlern mitten im Pulk mitgelaufen. Aber irgendwann fiel ich zurück und hatte nun bereits das Ende der Schlange erreicht. Ein paar Spendensammler und ein Angestellter aus dem Big Issue -Büro bildeten das Schlusslicht. Ich lief noch eine Weile neben ihnen her, musste dann aber stehen bleiben, weil Bob sich nach Büschen sehnte und ich eine Zigarette rauchen wollte. Und schon hatten wir den Anschluss verloren. Das nächste Etappenziel war das Roundhouse Pub, ein paar Kilometer weiter oben in Camden. Bis dahin würde ich es zu Fuß nicht mehr schaffen. Als wir an einer Bushaltestelle vorbeikamen, von der ein Nachtbus Richtung Tottenham fuhr, war für mich die Entscheidung gefallen.
»Was meinst du Bob, machen wir Schluss für heute?« Er gab zwar keine Antwort, aber ich wusste auch so, dass er sich nach seinem Bettchen sehnte. Als der nächste Bus vorfuhr und die Türen
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