Boccaccio
Beschaffenheit.
Obwohl ich glaube, daß gerade diese neununddrei-
ßig Novellen zu den schönsten und ergötzlichsten ge-
hören, will ich doch den Inhalt derselben nicht zu
verteidigen unternehmen. Es ist eine Ordnung der
Natur, daß die Menschen gleich anderen lebenden
Geschöpfen ihre Art nicht (wie manche Pflanzen tun)
sich durch Knollen fortsetzen, sondern in zwei Ge-
schlechter zerfallen, woraus beiden Teilen ebensowohl
viel Vergnügen als häufiger Kummer entsteht. Und
es ist eine andere Ordnung (diese jedoch nicht von
der Natur), daß die meisten wohlgesitteten Men-
schen diese natürlichen Dinge zwar billigen und ih-
ren Gesetzen folgen, aber durchaus nicht davon gespro-
chen wissen wollen. Und auch noch viele, welche
mündlich nicht selten davon zu sprechen und zu hören
pflegen, sehen es doch in gedruckten Büchern nicht
gerne.
Unser Novellenbuch hat das Bestreben und die Ei-
genscha, ein Spiegel des wirklichen Lebens zu sein.
Wie ich für sicher glaube, hat wohl an der Häle aller
wichtigen menschlichen Begebnisse, Leidenschaen,
Schicksale, Freuden und Leiden das Verhältnis der Ge-
schlechter großen Anteil. Wenn nun das Geschichten-
buch des Boccaccio nur zu einem Dritteil von solchen
Stoffen handelt, ist es also doch immer noch um ein
Erkleckliches anständiger und schamhaer als das Le-
ben selber. Außerdem sind diese Stoffe von den Erzäh-
lern teils so zart und mit guten Nutzanwendungen
vorgetragen, teils so fein und erheiternd mit Witz
und Wortspiel verziert, teils auch so burlesk und drol-
lig, daß ihnen die natürliche Gemeinheit zum guten
Teil genommen ist und daß sie bei gesunden und ver-
nünigen Lesern gewiß keinen Schaden anzurichten
vermögen. Dazu kommt, daß neben diesen anderen
so viele Geschichten voll Reinheit und Edelsinn ste-
hen, ja auch unter denen, welche ausschließlich von
der Liebe handeln, finden sich nicht wenige Beispie-
le von seltener Keuschheit, Treue und Ehrbarkeit.
Überdies war der Meister ehrlich genug, jeder Ge-
schichte ihren kurzen Inhalt in Überschrien voranzu-
stellen, so daß, wer gewisse Dinge verabscheut, die
davon handelnden Novellen ungelesen überschlagen
kann.
Ein besonderer Vorwurf wird ungerechterweise dem
Dekameron darüber gemacht, daß die einzelnen Ge-
schichten von Erzählern beiderlei Geschlechts berichtet
werden und daß die jungen Damen nicht nur manche
derbe Posse mit anhören, sondern auch selbst solche
erzählen. Mir ist zwar nicht bekannt, weshalb die Frauen
so viel mehr als die Männer vor jenen Dingen Scheu
haben sollten, auch kann man jeden Tag sehen, daß dem
in Wirklichkeit nicht so ist; dennoch hat auch hierfür der
Meister sich fein und deutlich entschuldigt, indem fast
jede Novelle im Beginn oder am Schlusse einleuchtend
erklärt, warum und in welcher Absicht sie erzählt sei.
Die Einführung der Erzählungen heiklen Inhalts hat
Boccaccio auf eine ungemein heitere und kluge Weise
gegeben. Unter den drei Jünglingen der Gesellscha
befindet sich einer namens Dioneus, ein Witzemacher,
Spötter und Schalk vom reinsten Wasser. Dieser nun ist
der erste, welcher am ersten Tage es wagt, eine soge-
nannte saige Geschichte vorzutragen, und er behält
sich das Recht vor, ohne Zwang jedesmal gerade das zu
erzählen, was er im Augenblick besonders unterhaltend
fände. Dieser Dioneus fährt denn auch stets, ohne sich
sonderlich an das vorgeschlagene ema zu halten, in
der begonnenen Art fort, und unter den zehn von ihm
erzählten Novellen sind nur zwei, die nicht anstößig
wären, und auch von diesen beiden ist noch die eine,
Erste Posse des Dioneus
obwohl frei von Liebesabenteuern, voll von anderen
kräigen Scherzen und Spöttereien.
Die erste von Dioneus erzählte Posse, worin ein
Mönch sich in die Liebe einer Dirne mit dem Abte teilt,
erregt bei den Damen Erröten und Schelten. Allmäh-
lich wagen es nun auch die beiden anderen Jünglinge,
ähnliches vorzutragen, bei den Mädchen überwiegt
bald das Gelächter den Unwillen, und nach und nach
entschlüp auch ihnen da und dort eine derbe Historie,
bis am Ende die Scheu ganz überwunden ist und alle
ihren natürlichen Eingebungen folgen, so daß zuletzt
auch von den Damen jede wenigstens eine oder zwei
derartige Anekdoten zum besten gegeben hat. Dioneus
freilich bleibt hierin obenan, nicht nur was die Anzahl,
sondern auch was die Stärke seiner
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