Boccaccio
Possen betri. Wel-
cher Novelle in dieser schlimmen Hinsicht der Vorrang
gebühre, mag jeder für sich entscheiden. Aber auch
davon abgesehen, daß alle diese von der sinnlichen
Liebe handelnden Stoffe mit vieler Schönheit und
Kunst vorgetragen werden, sind Reden und Benehmen
der zehn jungen Leute im übrigen so ehrbar und tadel-
frei, daß man wohl sehen kann, wie Reden und Tun
zweierlei Dinge sind und wie Freimütigkeit sich mit
guter Sitte sehr wohl verträgt. Darin könnte sogar
mancher von den Erzählern der hundert Novellen viel
Nützliches lernen.
Im Ernst möchte ich keinem klugen Leser raten, die
unanständigeren Novellen des Dekameron völlig zu
überschlagen. Wer selbst von guter und reinlicher Na-
tur ist, wird gewiß das wirklich Unsäuberliche von
selber liegen lassen. Davon abgesehen, offenbart sich
aber gerade in einigen der derberen Geschichten die Art
des Boccaccio am besten, so daß man in ihnen ebenso
die große Anschaulichkeit und Wahrheit der Darstel-
lung wie die Lebendigkeit der Sprache bewundern
muß. Es sind von alters her die Florentiner in Witzwor-
ten, Anspielungen und schalkhaen Wendungen der
Rede sehr geübt gewesen und sind es auch heute noch
in hohem Grade. Da nun Boccaccio in jenen Anekdo-
ten und Possen durchaus dieselbe Sprache redet wie das
florentinische Volk auf der Gasse, zeigen dieselben ih-
rem Inhalte zum Trotz häufig eine Anmut und Natür-
lichkeit, welche fast nie von anderen Schristellern
erreicht wurde.
Wer noch weiteres zur Verteidigung des armen Gio-
vanni gegen fromme Vorwürfe für notwendig hält,
möge seine eigenen Rechtfertigungen lesen, welche am
ausführlichsten in der Einleitung, sowie in der Vorrede
zum vierten Tage und im Epilog sich finden. Wohl
dem, der dessen nicht bedarf und sich frohen Herzens
des dargebotenen reichen Genusses erfreut!
Übrigens sind die Novellen des Boccaccio vor Zei-
ten keineswegs vornehmlich deshalb so getadelt wor-
den, weil sie öers in freimütiger Weise von den
Vergnügungen der Liebe handeln; denn von diesen
Dingen wurde in jenen Zeiten viel natürlicher und
freier gesprochen, als es heute Sitte ist, wo man zwar in
allen Verderbtheiten große Übung hat, aber davon zu
reden sich gewaltig scheut. Auch ist sowohl die deut-
sche wie die englische Literatur der älteren Zeit reich an
Unflätereien, neben welchen die bösesten Stellen des
Boccaccio noch wie Gebete klingen.
Vielmehr zielten die vielen Anklagen damaliger
Zensoren fast ausschließlich darauf, daß im Dekameron
häufig, wie man meinte, die heilige Religion und Kir-
che angetastet und verhöhnt werde. In dieser Hinsicht
ist nun freilich die heutige Zeit weniger eilig zum Ver-
dammen geneigt.
In Wirklichkeit findet man in dem ganzen Werke
keine noch so kleine Stelle, welche wider die Religion
gerichtet wäre oder die Absicht hätte, sie zu verspot-
ten. Im Gegenteil ist öers von göttlichen Gesetzen
und vom christlichen Glauben in den aufrichtigsten
und gläubigsten Ausdrücken die Rede. So wird auch
von der Gesellscha der Zehne jedesmal der Freitag
und Samstag mit Strenge gefeiert, und an diesen Tagen
hören wir weder von Geschichtenerzählen noch von
sonstigen Lustbarkeiten. Was aber uns heute billig und
gerecht erscheint, damals jedoch zu großer Verdam-
mung gereichte, das ist der Umstand, daß Boccaccio
bei jeder Gelegenheit von Priestern, Mönchen und
Nonnen, auch von Äbten, Bischöfen, Prioren und ho-
hen geistlichen Herren mit der kühnsten Freimütigkeit
gesprochen hat. Er tat dieses teils, indem er die unan-
ständigen und lasterhaen Handlungen, wenn er solche
berichtet, fast immer solchen Klerikern in die Schuhe
schob, teils redete er aber auch unverhüllt in den
strengsten und heigsten Ausdrücken über Priester
und Mönche. Von diesen sagt er, außer an vielen ande-
ren Orten, in der siebenten Novelle des dritten Tages:
»Sie schreien über die Üppigkeit gegen die Männer,
damit, wenn sie diese sich vom Halse gescha haben,
die Weiber für die Schreier zurückbleiben. Sie verdam-
men den Wucher, damit sie, wenn der Sünder durch
ihre Hände den ungerechten Gewinst zurückerstattet,
sich vorher daraus die weitesten Kutten machen lassen
und Bistümer und Prälaturen kaufen können. Sie pre-
digen lauter Gutes – aber warum? Damit sie selbst das
tun können, was, wenn sie es den Weltlichen nicht ver-
böten, sie nicht tun könnten!
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