Boccaccio
nur am Rande artikuliert, wird in seiner Boccac-
cio-Monographie zu einem beredten Plädoyer:
»Unser Novellenbuch hat das Bestreben und die Eigenscha,
ein Spiegel des wirklichen Lebens zu sein … Außerdem sind
diese Stoffe von den Erzählungen so zart und mit guten Nutzan-
wendungen vorgetragen, teils so fein und erheiternd mit Witz
und Wortspiel verziert, teils auch so burlesk und drollig, daß
ihnen die natürliche Gemeinheit zum guten Teil genommen ist
und daß sie bei gesunden und vernünigen Lesern gewiß keinen
Schaden anzurichten vermögen. Dazu kommt, daß neben die-
sen anderen so viele Geschichten voll Reinheit und Edelsinn
stehen, ja auch unter denen, welche ausschließlich von der Liebe
handeln, finden sich nicht wenige Beispiele von seltener
Keuschheit, Treue und Ehrbarkeit.«
Nach Hesses Ansicht gehören explizit die derberen Possen zu
Boccaccios besten Erzählungen. Aus Boccaccios Bekenntnis im
Prooemium, Epilog und in der Vorrede zum vierten Tag leitet
Hesse den Nachweis ab, daß selbst die delikaten Novellen keine
bösartigen Invektiven implizieren. Mit gleicher Verve verwahrt
Hesse Boccaccio gegen den Vorwurf der Blasphemie. Boccac-
cios Kritik am Klerus bewegt sich nach Hesse im Rahmen der
allgemeinen Zeitkritik gegen damalige kirchliche Mißstände.
Wie vehement Boccaccio die Diskrepanz zwischen Lehre und
lasterhaem Lebenswandel des Klerus anprangert, illustriert
Hesse am Beispiel der Novelle I, vom rechtschaffenen Juden
Abraham, der die Laster der allerhöchsten Kirchenfürsten erle-
ben muß.
Zu den schönsten Novellen des Dekameron zählen für ihn die
Erzählungen über tragische Liebe und Seelengröße. Als besonde-
res narratives Kleinod bezeichnet er in diesem Zusammenhang
die Griseldis-Novelle (X, ), deren poetische Vollkommenheit
Hesse daran mißt, daß Petrarca sie ins Lateinische übertrug.
Nicht weniger fasziniert ist er von der Novelle V, über den
jungen Edelmann Federigo degli Alberighi und seinen Falken:
»Diese Erzählung stellt, ohne ein einziges überflüssiges Wort,
eine edle und treue Liebe dar, welcher kein Opfer je zu groß ist,
und dies ist mit einer so feinen, wehmütigen Einfalt erzählt, daß
es schwerlich sonst je einem Dichter gelungen ist, mit so be-
scheidenen Worten das Herz des Zuhörers so mächtig zu ergrei-
fen.«
Ebenso ergreifend wirkt auf Hesse die Erzählung IV, , in der
ein Mädchen ihren toten Geliebten auf ein Seidentuch bettet und
den Leichnam mit Rosen zudeckt.
Interesse bezeugt Hesse an den Novellen über die Gepflogen-
heiten von Kaufleuten in exotischen Seestädten, über das Geba-
ren betrügerischer Dirnen in Palermo (VIII, ) und über köst-
liche Tafelfreuden (X, ).
Als Meisterstück erzählerischer Darstellungskunst bezeichnet
er die Schilderung der Pestepidemie zu Beginn des Dekameron .
Den Schwank hat Boccaccio nach Hesses Auffassung unüber-
trefflich gestaltet. Mit wenigen Strichen konturiert Hesse die
Schwanke, die sich um den Witzbold Michele Scalza (VI, ), die
Maler Bruno und Buffalmacco und ihren Freund Maso del Sag-
gio ranken (VIII, , , ; IX, , ). Der köstlichste Schwank ist
für Hesse unbestritten die Novelle vom Bruder Cippola. Welche
Faszination dieser Schwank auf ihn ausübt, hat Hesse in der
Boccaccio-Miszelle der Frankfurter Zeitung treffend zum Aus-
druck gebracht:
»Und doch ist es gerade eine der Mönchsnovellen (Tag , No-
velle ), in welcher wir den Dichter von seiner liebenswürdig-
sten Seite kennenlernen. Es ist die ergötzliche Geschichte vom
Bruder Zippola und seiner Reliquienpredigt, eine Perle des ›De-
kameron‹. An feurigem Witz, scharfsinnigen, geistreichen oder
burlesken Einfällen fehlt es dem Boccaccio ja nie, aber in dieser
meisterhaen Erzählung erreicht er die Höhe eines wirklichen,
profunden, reinen Humors, wie wir ihn bei den zahllosen späte-
ren italienischen Novellendichtern vergebens suchen. Die Art,
wie der mit schwindelhaen Reliquien umherreisende schlaue
Bettelmönch seine Überlister wieder überlistet, wie er sich aus
einer höchst peinlichen Verlegenheit zu retten weiß, wie er sicht-
lich seiner eigenen Schlauheit noch mehr als des erschwindelten
Geldes sich freut und schließlich zwar als durchschauter Übeltä-
ter, aber doch ungestra und fast mit einer kleinen diabolischen
Glorie aus der heiklen Sache hervorgeht, das
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