Boccaccio
alles hat Boccaccio
weder aus seinen Quellen noch bei Cicero holen können, das hat
er aus seinem Eigensten geschöp. Ihrer echt toskanischen, wit-
zigen Grazie wegen ist gerade diese Novelle stets der Liebling
der Florentiner gewesen und ist es heute noch.«
Die Boccaccio-Miszelle der Frankfurter Zeitung stellt neben der
Würdigung des italienischen Novellisten zugleich eine Kritik an
einer allzu einseitigen Auffassung der Renaissance dar, die sich
in der Suche nach antiken Quellen, in Textkritik, der Rekonsti-
tution des klassischen Lateins und in der Kanonisierung und
Nachahmung von Musterautoren erschöp. Ein derart abstrak-
tes gelehrtes Renaissanceverständnis mußte Hesse, dessen emp-
findsam-romantische Dichterseele mit übergroßer Sensibilität
die Fülle der Renaissance-Erscheinungen als Chiffren der eige-
nen Seelennöte und einer lyrisch-romantischen Gestimmtheit
wahrnahm, abschrecken. Und so fordert er mit Nachdruck die
eingehende Beschäigung mit der volkssprachlichen Dicht-
kunst, die Hinwendung der Gelehrten zu den Vulgarisierungs-
tendenzen der Renaissance:
»Und wem der Name der Renaissance nicht ein gelehrtes Ab-
straktum ist, sondern das lebendige Bild der städtischen Kultur
Italiens im . bis . Jahrhundert vor Augen stellt, der könnte in
diesem Bilde wohl zur Not die genealogia Deorum und die cla-
rae mulieres entbehren, unmöglich aber das unsterbliche Deka-
meron.«
Die von der Boccaccio-Forschung wiederholt diskutierte Frage,
ob das Dekameron autobiographische Züge widerspiegelt, hat
auch Hesse beschäigt; allerdings läßt Hesse die Frage offen, ob
die Rahmenerzählung Fiktion oder Realität ist, ob die Figuren
fiktiv oder real existent sind.
Ungeachtet dieses Problems hat Boccaccio nach Hesses Urteil
signifikante Wesenszüge seiner Persönlichkeit in die Figur des
Dioneo hineinprojiziert:
»Nicht nur ist dieser Dioneo mit viel mehr Liebe und Sorgfalt
gezeichnet und mit viel mehr individuellen Zügen ausgestattet
als alle anderen Personen der Gesellscha, sondern er spielt auch
die Rolle des Erheiterers, Weiberfreundes, Lustigmachers und
unterhaltenden Schwerenöters, welche Boccaccio selbst als
Schreiber des Dekameron übernommen hat und zu der er sich
im Vorwort ausdrücklichst bekennt. Ferner aber scheint, so vage
hier auch die Andeutungen sind, Dioneo als Liebhaber der
Fiammetta, der Königin des fünen Tages, gedacht zu sein und
damit wären viele Zweifel behoben. Denn wen wir uns unter
dieser Fiammetta zu denken haben, wissen wir ziemlich gewiß.
Daß eine der anmutigen Erzählerinnen des ›Dekameron‹ jenen
Namen trägt, geht auf eines der tiefsten Jugenderlebnisse des
Dichters zurück.«
Was Hesse hier noch behutsam formuliert, daß Boccaccios Lie-
besverhältnis zur Neapolitanerin Fiammetta im Dekameron wie-
derholt anklingt, ist durch die Forschung jetzt erwiesen.
Wenngleich Hesse bei der Beurteilung autobiographischer
Fakten im Dekameron sich zurückhaltend zeigt, möchte er doch
annehmen, daß die Darstellung der Geschäe, Reisen und Ge-
pflogenheiten der Florentiner Kaufleute sowie die Kenntnisse
über den Hafenverkehr (VIII, ) das Fazit von Boccaccios per-
sönlichen Erfahrungen sind.
So ist Hesse auch geneigt, die Novelle VIII, auf Boccaccios
eigenes enttäuschendes Liebesabenteuer zu beziehen, das den in
seinen früheren Dichtungen leidenschalichen Frauen-Verehrer
in seiner Satire Corbaccio zum schonungslosen Frauenverächter
werden ließ.
In einer kurzen Analyse dieser Novelle macht Hesse gleich-
sam wie in einem Psychogramm das Geschehen in seinem gan-
zen Bedeutungsgehalt evident und versucht darzulegen, wie
sehr diese Erzählung durch stärkste Gefühlsunmittelbarkeit ge-
kennzeichnet ist, die in erhöhter Intensität seelischen Erlebens
und Gefühlsresonanz bei Boccaccio zum künstlerischen Aus-
druck drängt.
Wie schon in seiner Boccaccio-Monographie kritisiert Hesse
auch in der Boccacdo-Miszelle die angebliche literarische wie
moralische »Umkehr« des alternden Boccaccio und bezeichnet
seine Corbaccio -Satire als eine der vernichtendsten literarischen
Invektiven gegen die Frauen.
Mit einem diese schroffe Kritik an Boccaccio mäßigenden und
versöhnlichen Schlußakkord akzentuiert Hesse noch einmal die
zeitlose Wirkung des Dekameron :
»Das alles ist zum Glück nun schon über fünundert Jahre
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