Boccaccio
seinen
weiteren Lebensstationen bis zu seinem Tod:
»Für die nachfolgenden Jahrhunderte … ist er wieder der Ge-
schichtenerzähler mit der Schelmenmiene geworden, und dem
heutigen Geschlecht ist uns an einem einzigen Witz aus seinen
Novellen mehr gelegen als an der ganzen Gelehrsamkeit und
Ehrbarkeit seines ehrenvollen Alters.«
Diese die Biographie abschließenden Worte zeigen, daß Hesse in
Boccaccio fast ausschließlich den heiteren und zugleich leiden-
schalichen Dichter, Vater und Urheber der Novellistik sehen
möchte, den mit der brillanten florentinischen Sprache und dem
witzigen Geist geborenen Florentiner, den Schöpfer des Deka-
meron , den selbst noch als rüstigen alten Mann in Jugendsünden
und Leidenschaen verstrickten Vagabunden und ironischen
Kritiker.
Es war Hesse durchaus bekannt, daß zahlreiche emen Boc-
caccios wie laszive Ausschweifungen, Parodien auf das asketi-
sche Leben oder die Kritik am Klerus typische Stoffe mittelalter-
licher Schwankliteratur sind.
Es ist nur allzu verständlich, daß Boccaccios um verfaß-
tes Erzählwerk Corbaccio , eine Schmährede gegen die Frauen,
Hesses bedingungslose Kritik provozierte, zumal er das Werk
biographisch deutete als Distanzierung des mittlerweile vorwie-
gend humanistisch arbeitenden Boccaccio auch im Hinblick auf
eine zunehmend religiös-moralistische Orientierung des Au-
tors. Hier sieht Hesse die häßlichen Seiten der Liebe nach dem
Schema der reprobatio amoris in schroffem Kontrast zu den Dies-
seitsfreuden des Dekameron gebrandmarkt.
Während Boccaccio als Autor des Dekameron für Hesse als
Modell der italienischen Literaturprosa schlechthin gilt, regi-
striert er die humanistischen Schrien des Vaters der europäi-
schen Erzählliteratur nur peripher, ohne allerdings die Trag-
weite dieser Schrien für die Entwicklung der italienischen
Renaissance auch nur im geringsten in Frage zu stellen. Hesse
war sich bewußt, daß die Rezeption Boccaccios zweisträngig
verlief, wie schon in der Renaissance seine humanistischen
Schrien und die volkssprachliche Dichtung meistens getrennte
Wege gingen.
Der stofflich-motivischen Vielfalt entspricht nach Hesse im
Dekameron das breite Spektrum an Erzählstilen, von einer einfa-
chen, alltagsnahen, jedoch niemals derben Sprache bis hin zu
stilistisch und syntaktisch komplexen Ausdrucksformen. Ganz
aus der Perspektive des Dichters würdigt Hesse Boccaccios er-
zählende Prosa des Volgare in ihrer unverwechselbaren Plastizi-
tät und poetischen Faszination:
»Das mächtige Werkzeug, das vor allem die Verschmelzung und
Neugestaltung alter Schätze möglich machte, war Boccaccios
Sprache. Sein umfangreiches Werk redet von der Vorrede bis
zum letzten Satz der hundertsten Novelle dieselbe lebendige,
elegante, biegsame, frische Sprache, deren Zauber jeden Leser
entzückt und festhält. Ob sie in großen, volltönenden Reden
schwelgt, ob sie schlicht und scheinbar nachlässig erzählt, oder
ob sie in schalkha graziösen Wendungen mit sich selber spielt
und Mutwillen treibt, sie ist immer von derselben sprudelnden
Frische, Reinheit und Beweglichkeit, niemals lahm, niemals
welk, sondern in jedem Augenblick elastisch, jugendlich und bei
aller Zierlichkeit körnig und ursprünglich. An vielen Stellen läßt
sich nicht verkennen, daß der Dichter ganz bewußt ein Schüler
der lateinischen Klassiker, namentlich des Cicero ist; so liebt er
zum Beispiel schöngebaute, lange, wohlgegliederte und o fast
prahlerisch und kokett verschlungene Perioden. Ist aber für die
Tektonik der Sätze Cicero sein Vorbild gewesen, so schöp er
die Sprache selbst, die Worte und Bilder, unmittelbar aus der
lebendigen lingua parlata der Gesellscha, der Gassen und der
Märkte. Und als Bestes kam sein eingeborenes, geniales Feinge-
fühl dazu, das was erst einen Autor zum Dichter macht: der
geheime Rhythmus, die souverän persönliche Freiheit von Kon-
venienz und Zopf, die Beseelung und Nuancierung der Worte,
die prägnanten Neubildungen, der bei aller Mannigfaltigkeit
schön und sicher in sich ruhende Stil.«
Dieses einzigartige Bekenntnis zu Boccaccios Sprache veröf-
fentlichte Hesse in seinem Essay Giovanni Boccaccio als Dichter des
›Dekameron‹ , der am . Mai in der Frankfurter Zeitung erschien. Selten ist so über Boccaccios Sprache geschrieben wor-
den, mit so viel nachtastendem
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