Bockmist
vor dem Ministerium stehen, bis O’Neal ein paar hundert Meter Vorsprung hatte, folgte ihm dann und hatte ausgesprochene Mühe, in seinem unerwartet langsamen Tempo mitzuzockeln. Man hätte denken können, er genieße das Wetter, hätte es da etwas zu genießen gegeben.
Erst nachdem er die Mall überquert hatte und schneller wurde, verstand ich, daß er den Flaneur gemimt, die Rolle des Whitehall-Tigers auf Beutezug gespielt hatte, Herr all dessen unter seinem Blick, eingeweiht in brisante Staatsgeheimnisse, von denen jedes einzelne dem gaffenden Durchschnittstouristen die Schuhe auszöge, wenn er oder sie nur davon wüßte. Als er jedoch den Dschungel hinter sich hatte und auf die offene Savanne hinausgetreten war, lohnte sich die Pose nicht mehr, und er ging normal weiter. O’Neal konnte einem leid tun, wenn man dafür Zeit hatte.
Ich weiß nicht, warum, aber ich hatte erwartet, er würde auf dem kürzesten Weg nach Hause gehen. Ich stellte mir ein Reihenhaus in Putney vor, wo eine schwergeprüfte Gattin ihm Sherry und gebackenen Kabeljau vorsetzte und seine Hemden bügelte, während er die Fernsehnachrichten sah, dabei vor sich hin brummte und den Kopf schüttelte, als hätte jeder Satz für ihn eine zusätzliche tiefere Bedeutung. Statt dessen eilte er hinter dem Institute of Contemporary Arts die Treppe zur Pall Mall hoch und verschwand im Travellers Club.
Es war sinnlos, dort mein Glück zu versuchen. Durch die Glastür beobachtete ich, wie O’Neal den Portier bat, in sein Postfach zu gucken, das sich aber als leer erwies, und als ich sah, wie er sich aus dem Mantel schälte und in die Bar ging, wußte ich, daß ich ihn gefahrlos eine Zeitlang allein lassen konnte.
An einem Imbiß am Haymarket kaufte ich mir einen Hamburger mit Pommes, lief eine Weile ziellos durch die Gegend, aß im Gehen und sah zu, wie Menschen in bunten Hemden in Musicals drängten, die lange vor meiner Geburt angelaufen sein mußten. Während ich so dahin-bummelte, sank mir Schwermut auf die Schultern, und ich merkte mit einem Ruck, daß ich genau dasselbe tat wie O’Neal – ich sah auf meine Mitmenschen mit dem müden Zynismus des »Ihr armen Narren, wenn ihr bloß wüßtet« herab. Ich riß mich zusammen und warf den Hamburger in einen Mülleimer.
O’Neal kam um halb neun heraus und ging den Haymarket hoch zum Piccadilly Circus. Dort wandte er sich in die Shaftesbury Avenue und bog dann links ab nach Soho hinein, wo das hohe Geschnatter der Theaterbesucher dem tieferen Dröhnen der Szenekneipen und Stripteaselokale wich. Riesige Schnurrbärte mit Männern dahinter lungerten in Hauseingängen und raunten etwas von »sexy Shows«, als ich vorbeikam.
O’Neal wurde von den Türstehern genauso angequatscht, aber anscheinend wußte er, wo er hinwollte, und würdigte die Marktschreier keines Blickes. Statt dessen wich er ein paarmal nach links oder rechts aus, sah sich nie um, bis er seine Oase erreichte, The Shala, die er schnurstracks betrat.
Ich lief bis ans Ende der Straße, vertrödelte dort eine Minute und ging dann zurück, um die fesselnde Fassade von The Shala zu bewundern. Die Worte LIVE, GIRLS, EROTIC, DANCING und SEXY waren nach dem Zufallsprinzip um die Tür herum angeordnet worden, als sollte der Passant versuchen, einen Satz daraus zu bilden, und in einem Schaukasten hing ein halbes Dutzend verblichener Fotos von Frauen in Unterwäsche. Neben der Tür lümmelte ein Mädchen in einem hautengen Lederrock, und ich lächelte sie an, als wollte ich sagen, ich käme aus Norwegen und, ja, The Shala hielte ich für den idealen Ort, um mich vom harten Tagwerk des Norwegerseins zu erholen. Ich hätte sie genausogut anschreien können, daß ich gleich mit einem Flammenwerfer hineinstürmen würde, ich bezweifle, daß sie auch nur mit der Wimper gezuckt hätte. Wie denn auch, unter all dem Mascara?
Ich gab ihr fünfzehn Pfund, füllte eine Beitrittserklärung auf den Namen Lars Petersen aus, c/o Sittendezernat, New Scotland Yard, und trabte eine Treppe in den Keller hinab, um mir anzuschauen, wie live, sexy, erotic, dancing und girls The Shala denn nun wirklich war.
Es war eine schäbige Spelunke. Wirklich ganz, ganz schäbig. Die Leitung war in grauer Vorzeit zu der Erkenntnis gelangt, daß das Runterdrehen der Beleuchtung billiger war als Putzen, und ich hatte ständig das Gefühl, die Teppichfliesen würden an meinen Schuhsohlen haften bleiben. Vor einer kleinen Bühne, auf der drei Mädchen mit glasigen Augen zu lauter
Weitere Kostenlose Bücher