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Bodin Lacht

Bodin Lacht

Titel: Bodin Lacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvie Schenk
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hänge an ihr, aber gehöre ich wirklich zu ihr?
    Simone ging ungefragt zu Paulas Schreibtisch, warf gewiss einen Blick auf das Heft und verriet sich mit der Aussage, ihre Stiefmutter sei eine blöde Kuh, die meine, die Zahl der Sexualmorde nehme täglich zu, und solche Perversen gehörten zur Abschreckung öffentlich entmannt. Ihre Stiefmutter sei zwar primitiv und unwissend, sie irre sich, was eine angebliche höhere Zahl von Sexualmördern angehe, genau das Gegenteil sei der Fall, die Stiefmutter sei aber nicht völlig beschränkt, manchmal denke auch sie, Simone, dass ein schärferes Sexualstrafrecht nötig sei und dass die Kastration, übrigens von manchen Perversen selbst erwünscht, nicht nur chemisch durchgeführt werden sollte. Woher wissen Sie, dass es um ein Sexualverbrechen geht?, fragte Paula, die es längst selbst dachte. Es ist nur eine Hypothese, sagte das Putzmädchen, das sein Abitur mit 1,4 gemacht hatte und sich mit diesem hart verdienten Geld das Jurastudium finanzierte, denn Paula bezahlte doppelt so viel wie ein Nachhilfeschüler in Latein. Simones Vater war ein italienischer Mechaniker aus Sizilien. Sie sah aus wie La fornarina von Raphael. Sie war von dieser Art fragiler Schönheit, die einen psychisch kranken Menschen dazu verleitet, sie zu beschmutzen, dachte Paula.
    Sie putzte jetzt den Eingangsbereich, obwohl Paula ihr schon zwei oder drei Mal erklärt hatte, sie solle oben und mit dem Bad anfangen, sich nach unten arbeiten und die Diele unbedingt zuletzt reinigen. Aber das Mädchen machte sowieso nur, was es wollte. Ziehen Sie wenigstens die Gummihandschuhe an, schimpfte Paula, denken Sie wenigstens an Ihre Hände.

FELD 9: BODINS KRÄHE
    [Krähe]
Eine Krähe war bei mir
Aus der Stadt gezogen,
ist bis heute für und für
Um mein Haupt geflogen
    W ILHELM M ÜLLER,
Die Winterreise, Die Krähe
    Ja, Evelyn Gorda ist gestorben, sagte Bodin. Bleiben wir beim Thema, ich bin mit dem Alter unflexibel geworden und kann den Gedankensprüngen meiner Patienten nicht folgen. Er gähnte. Er hatte den Sessel seines Schreibtischs verlassen und stapfte leicht gebückt zu seiner Couch, die er eingehend betrachtete, als überlegte er, welche Diagnose er dem verschlissenen Leder stellen sollte, ließ aus seinem noch vollen Mund ein puf, puf, puf, puf entwischen, das ihn an einen bald kochenden Wasserkessel erinnerte, fasste aber vor der Explosion eine Entscheidung: Er legte sich selbst auf die Couch, Junge, ich bin so müde, so müde, so müde, so müde. Du erlaubst wohl, dass – Dass was?, fragte Martin nicht und drehte überrascht und amüsiert seinen Stuhl in Bodins Richtung, betrachtete das blasse Gesicht, gefleckt von dem schmutzig grauen Stoppelbart. Bodin trug Weiß und die Hose unterhalb des aufgeblähten Bauches. Er erinnerte Martin vage an einen weißen Gänserich. Er blies die Nüstern auf und spitzte die breiten Lippen, um noch mehr puf, puf, puf, puf zu pusten. Sein Atem hob die oberen Haare seines Schnurrbarts. Dann zeichnete er mit der rechten Hand eine breit angesetzte Spirale in die Luft: Schau dir diese Wände an, atme diese Luft ein, rieche die hier für immer eingekesselten Gerüche des Elends, reichst du mir bitte eine Praline? Danke! Spitze das Ohr, hör dir das Schluchzen, das Stottern an, nimm dir doch auch eine, so, mach die Augen zu und stell dir nur vor, wie viele Kreaturen sich hier bei mir eingefunden haben, um mich mit der detaillierten Erzählung ihrer echten und eingebildeten Qualen zu einem gewissen materiellen Wohlstand und einer riesigen seelischen Müdigkeit zu bringen. Sein Arm senkte sich und hing schlaff über dem Parkettboden, den er mit den gestreckten Fingern kratzte. Er schien all seine Kräfte in einer hinweisenden Geste zu vereinen: Hier sind Flüsse von Tränen geflossen, hier klebt alles von der Feuchtigkeit der geschundenen, blutenden, giftigen Seelen meiner Patienten, ach Martin, willkommen in meinem Horrorkabinett, meiner Sammlung von Mördern, Selbstmördern und Selbstbetrügern, von deprimierten Drag Kings der Nacht, von echt und unecht Vergewaltigten und von echten und eingebildeten Gelähmten und manisch Onanierenden, von sauren Jungfern, übergewichtigen Schizophrenen, von deprimierten Mamasöhnchen, von Nazisöhnen und -enkeln, von Judentöchtern und -enkelinnen, von Magersüchtigen, die sich meiner Pralinen in der

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