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Bodin Lacht

Bodin Lacht

Titel: Bodin Lacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvie Schenk
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an Evelyn Gorda bemerkt hatte, eine Angst, eine Unruhe, ob sie manchmal von ihren Beziehungen sprach, von ihren Bekannten, von ihren Kollegen. Ein Faun, sagte ein Student, ist doch ein Triebtäter. Hatte Evelyn oder Martin die Prélude ausgewählt? Sie befragten ihn, als sollte er für den Auftritt bei der Polizei proben, er aber stellte bitter fest, wie wenig er über seine Klavierlehrerin und Freundin erfahren hatte, wie wenig er nachgefragt hatte. Er hatte sich als der Ältere von beiden in einer bequemen Schüler-Position eingerichtet, hatte ihre Hilfe angenommen, und hatte sich, glaubte er, wollte er glauben, taktvoll und diskret verhalten, im Grunde aber egozentrisch, selbstsüchtig und uninteressiert. Er wusste nur, dass sie aus einem Nest in der Eifel kam. Sie verdankte ihre Karriere einem Grundschullehrer, der ihre Begabung früh bemerkt und die Eltern zum Kauf eines Klaviers überredet hatte. Die Eltern besaßen nur einen Tante-Emma-Laden im Dorf, waren aber durchaus bereit, der einzigen Tochter alles zu geben, was ihnen nur möglich war. Ihr Studium hatte sie mit Stipendien, Jobs und Darlehen finanziert, hatte in Köln und ein Jahr in New York studiert, und teilte sich jetzt eine Wohnung mit einer Studentin der Musikhochschule. Er hatte nur einmal ihre Wohnung betreten (an dem Tag, als sie ihm ihre Kleider gab, was er den Kommilitonen natürlich verschwieg). Er ging mit seiner Mutter zu ihren Konzerten, wo man immer dieselben Gesichter sah. Evelyn wäre gern über die Region hinaus bekannter geworden, und bestimmt hätte sie es verdient, alle waren sich über ihr großartiges Talent einig, aber die Konkurrenz unter begabten Musikern war enorm, und bis jetzt hatte sie nur einen oder zwei zweitrangige Preise erhalten. Sie hatte einmal erwähnt, dass sie »die Provinz« verlassen wolle, um sich in Berlin niederzulassen. Es war aber ein schwieriger Schritt, die relative Sicherheit ihrer Existenz hier zu verlassen, um sich in der überbordenden Musikwelt der Hauptstadt zu behaupten und sich dort von null an einen Ruf zu erwerben.
    Er hörte die Kommentare der Kommilitonen nicht mehr und verlor sich in seine wichtigste Erinnerung an Evelyn. Sie hatten zusammen eine Fotoausstellung in Düsseldorf besucht. Er war damals leicht depressiv, kannte die Fotografin Bettina Rheims nicht, ließ sich aber von Evelyn überreden: Die Qualität der Fotos sei einmalig, er solle sich auf eine großartige Überraschung gefasst machen. Erst als er vor den Bildern stand, verstand er, warum Evelyn sie unbedingt mit ihm zusammen ansehen wollte. Die Starfotografin hatte transsexuelle Menschen fotografiert, unter anderen Andrej P., der für Gaultier und andere bekannte Couturiers Modell gestanden hatte – sowohl als Frau wie auch als Mann. Vor diesen Porträts fühlte er sich zum ersten Mal verstanden. Auch die zusammengemischten Stimmen der abgebildeten Menschen waren in der Ausstellung zu hören. Er war beglückt, als hätte er hier Brüder und Schwestern getroffen, und in der Tat spürte er auch hier verschwisterte Seelen. Bettina Rheims sagte in einem Interview, sie sei schon einigen Menschen begegnet, die sich mit undefiniertem Geschlecht sehr wohl fühlen würden und nichts daran ändern wollten. Sie seien beides: Mann und Frau, manchmal mehr Frau, manchmal mehr Mann, und hätten mit ihren beiden Lebenspolen Frieden geschlossen. Evelyn und er warfen einander komplizenhaft heitere Blicke zu, ihre langen Wimpern schlugen im selben Rhythmus wie seine. Er war leicht, befreit, vielleicht, dachte er, könne einmal auch tagsüber seine weibliche Seite zum Vorschein kommen, und nachts würde er sich ganz als Mann erleben, meistens würde aber umgekehrt die Nacht Martina begrüßen. Und er spürte, dass er bald damit in Frieden würde leben können. An diesem Tag hatte er Evelyn wie eine große Schwester geliebt. Er war aber so sehr mit sich selbst und seinem Spiegelbild beschäftigt, dass er keine Minute daran gedacht hatte, sie über sich zu befragen. Ja, er war Evelyn dankbar, aber auf eine ekelhafte, selbstsüchtige Art dankbar, und jetzt erschreckte ihn seine Egozentrik. Er war ein selbstverliebter Narziss. Sie lebte, sie lebte neben ihm, man hätte sich am Abend treffen, sich austauschen können. Sie hatte ihn verstanden und ihm helfen wollen, und er war so unreif gewesen, so blind, so ohne jegliches Feingefühl!

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