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Bodin Lacht

Bodin Lacht

Titel: Bodin Lacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvie Schenk
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Kloschüssel entledigt haben …
    Martin dachte (nur innerlich grinsend), seine Mutter habe Bodin mit ihrem Hang zur Dramatik angesteckt und wusste gar nicht, was er ihm sagen konnte und ob der Psychotherapeut seine Anteilnahme erwartete. Ja, sagte er auf gut Glück, muss schlimm gewesen sein.
    Ich habe meine Praxis gefüllt, weil ich dachte, damit mein Leben zu füllen, Praxis heißt Handeln, und Handeln Leben, es war recht und unrecht zugleich. Indem ich mich als ein Reservoir für den Diskurs – oder die Logorrhö – meiner Patienten zur Verfügung stellte, bewirkte ich die Befreiung ihrer Sprache, also ihre Befreiung aus der Neurose. Dachte ich. Wollte ich. Versuchte ich. Leider hat das Zuhören mich selbst ausgezehrt, ausgehöhlt, fünfunddreißig Jahre geduldiges Zuhören habe ich hinter mir: Kannst du dir das vorstellen?
    Kann ich, erklärte Martin. Ich höre seit mehr als fünfundzwanzig Jahren meiner Mutter zu.
    Martin, ich füllte mein ausgehöhltes Leben mit klein gehackten Geschichten wie eine Paprikaschote mit Fleisch. Jetzt bin ich dreiundsechzig und müde.
    Martin erinnerte sich, dass Bodin gern für Paula gekocht hatte (auch gefüllte Paprikaschoten) und dass er beim Abendessen viele Anekdoten über Marx und Freud (die der kleine Junge zuerst für so etwas wie Max und Moritz hielt) erzählte, und dass er, Martin, von Bodins linkem goldenen Backenzahn fasziniert war, der ihm wie ein Schmelztiegel dieser Geschichtchen erschien. Wo haben Sie ihren Goldzahn gelassen?, fragte er zu plötzlich, einen Finger auf seinem eigenem Kiefer, und Bodin ließ ein blechernes Lachen hören. Die Kronen gewechselt, sagte er dann, Keramik ist schicker: Bleiben wir beim Thema. Wenn ich dieses Leben verlasse, Martin, haftet mir eine Sammlung von Narren an den Fersen. Also, mein Junge, wenn du mit deinem Leben ungefähr zurechtkommst und es erstens mit Lieben, zweitens mit Schlafen, Schwimmen, Arbeiten, Musizieren ausfüllen kannst, darf da keiner eingreifen. Die Ausgeglichenheit eines Menschen ist eine sensible Geschichte, wenn man hier und da ein Element verrückt, gerät es leicht ins Schwanken. Und dann reichen sieben Jahre nicht, um das Ganze zusammenzuflicken.
    Martin trommelte mit den Fingern den Anfang von Chopins Nocturne auf der Armlehne des Sessels. Wollte den Redefluss unterbrechen, den Therapeuten beruhigen, sagte, ich komme wenigstens mit zweitens Schlafen, Schwimmen, Arbeiten und Musizieren gut zurecht und würde sehr gern jetzt sofort freiwillig die Praxis verlassen. Herr Doktor Bodin jedoch hatte entschieden, sich für fünfunddreißig Jahre Zuhören zu rächen und quatschte hemmungslos weiter. Ja, seufzte er, was ich empfinde, mein Junge, ist … eine Art Burn-out?, wagte der falsche Patient. Ich mag keine Etiketten, brummte der falsche Psychotherapeut. Heutzutage leiden schon Erstklässler unter Burn-out. Ich fühle mich verwüstet, eine Müllhalde, man hat mich mit Kotze zugeschüttet. Ich bin wie Torf. Eine gepresste Schicht dunkler, fremder Erde.
    Burn-out also (wiederholte Martin nicht).
    Bodin stieß darauf eine Reihe von puf puf puf puf aus und schaute beim Ausatmen zum Fenster hin. Sie haben sich in den letzten Jahren wahnsinnig vermehrt, sagte er. Sie sahen beide die schwarzen Krähen, die auf dem Sims des Hauses gegenüber ihre Schnäbel auf- und zuklappten. Die Vögel spielten Schauspieler, die sich nach der Vorstellung an den Rand der Bühne stellen, um beklatscht zu werden. Die Sonne stand hoch am Himmel und ihr Licht schürte in Martin eine warme Freude, die nur mit dem Wissen zu erklären war, dass er in einigen Minuten draußen sein würde und diese Sonne genießen könnte. Thema abgehakt. Herr Doktor Bodin aber drehte fragend den Kopf zu ihm hin, ob er vielleicht einen Rat von ihm erwartete? Sie sollten, sagte Martin, Ferien machen, ans Meer fahren oder in die Berge. Bodin lächelte listig (fand Martin): Du hast recht, Martin, wer die Erde atmen hört, findet auch ohne Freud leichter zur Freude, Zeit für mich also, den Wanderstock zu nehmen. Weißt du was? Vor allem die Frauen, die Künstlerinnen, haben mich fertiggemacht. Ihre Theatralik, ihre Selbstmordversuche, die sogenannten Hilferufe. Erpresserinnen. Die Künstlerinnen?, wiederholte Martin, Evelyn Gorda war eine Künstlerin ohne Theatralik, und jetzt … Aber Bodin schaute nach der Uhr. Machen wir

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