Bodin Lacht
in eins der Fächer. Die kleinen Jungen kickten ihre nicht zugeschnürten Turnschuhe in die Luft, klar, und es schien jetzt ein fehlender Schuh gesucht zu werden, die groÃen Mädchen versuchten, den Schrank vorzurücken und streckten den Kopf dahinter. Manchmal sah Martin auch das kleine Mädchen, zwei Jahre vielleicht, das aus der Wohnung entwich und verzweifelt versuchte, die Verbindungstür zu öffnen. Martin bewunderte das Kind, das nicht weggetragen werden wollte, sich mit allen Kräften am Geländer festhielt, schlieÃlich unter dem Arm gepackt wurde. Er wartete darauf, wann die Kleine es wieder versuchen würde; zwei oder drei Monate noch, bis sie die Kraft hatte, die schwere Tür zu öffnen. Der Drang nach Freiheit und nach Aufbruch war dem Homo erectus angeboren, und doch lieÃen sich fast alle kleinen Menschen allmählich in die Gedankenkäfige der Ãlteren einfangen, bis sie sich zum Homo sapiens in Pantoffeln verwandelt hatten.
Manchmal hatte Martin den Wunsch, ein Kind in die Welt setzen zu können. Inmitten der schwergewichtigen Welt die Leichtigkeit eines Kindes in seinen Armen genieÃen, inmitten der Unentschlossenheit eines ewigen Wählen-Müssens sich an dem sicheren Instinkt eines Kindes erfreuen, inmitten der verrohten, verblassten, blutunterlaufenen, gefalteten, verklemmten, geschminkten Gesichter der Erwachsenen das frische Gesicht des Kindes sehen. Ein Kind, um sich mit der Welt zu versöhnen.
Er klappte seinen Laptop zu. Er sollte zu seiner Mutter, die er mit seinen MutmaÃungen über Bodin beleidigt hatte. Er malte sich aus, wie sie allein und betrunken vor dem Fernseher den Plot von Dangerous Wife durcheinanderbrachte und ihren Zwist mit dem Sohn zurückspulte. Sie kannten beide das schmierige Gefühl, eine Wunde solle bald gereinigt, eine böse Stimmung geklärt werden. Man müsse sich versöhnen, zusammen lachen oder zusammen essen. In Gedanken zog er seine dicke Winterjacke an und brach samt Fahrrad in Richtung der Villa auf. Es blieb aber bei dem Gedanken.
Es wurde spät. Ab und zu ging das Licht in den Laubengängen des Hochhauses an, wenn jemand nach Hause kam oder ausging. Martin öffnete ein Buch, suchte die Stelle, an der er gestern aufgehört hatte, versuchte zu verstehen, was er las. Jetzt gingen gegenüber die Lampen wieder an, und auf der fünften Etage wurde eine Tür geöffnet, ein Mann lief hinaus. Er hatte es eilig, rannte den Gang entlang. Martin schloss das Buch und ging zum Kleiderschrank: Ein warmes orangenfarbenes Kleid war an der Reihe (aus Paulas Schrank, wo fünfzig andere hingen) und Stiefel mit höheren Absätzen. Martina schminkte sich, wollte gehen, warf noch einen Blick in den Garderobespiegel und entschied, Paula wenigstens anzurufen. Es dauerte eine Weile, bis sie sich mit Vanderbeke meldete, knapp und trocken, hallo Mama, ich binâs, ich wollte nur fragen, wie es dir geht. Seine Stimme klang liebe- und reuevoll, sie musste es spüren. Danke, gut, sagte sie. Im Hintergrund hörte er Musik, du hörst Jazz, Mama? Oder ist es Filmmusik, schaust du fern? Paula antwortete, sie sei nicht allein. Wir telefonieren morgen, Kind. Er legte auf, sehr erleichtert. Kind, das Zauberwort, der Rettungsring, den sie ihm dann und wann zuwarf. Paula ging es gut, wenn sie Besuch empfing, was leider selten geschah. Sie meinte, ihre Freundinnen seien neidisch auf ihre Lebensart, auf die Villa, ihre Originalität, ihre feine Küche, ihr Talent, das eigene Leben farbig zu gestalten. Der Abend des Kindes war gerettet. Das wollene Kleid füllte sich weich an. Noch ein Blick in den Spiegel, um sich zu vergewissern, dass die Metamorphose stattgefunden hatte. Eine samtene Handtasche enthielt Schlüssel, Taschentücher, Lippenstift und Geld. Papiere nahm sie nie mit.
Sie saà in der U-Bahn und warf auf ihre Mitmenschen einen anderen Blick als Martin. Sie betrachtete die Frauen kritischer als er, fand, sie sollten viel mehr aus sich machen, viele wirkten schlampig oder mit ihren Kaugummis ordinär, im besten Fall energielos oder verkrustet. Sie lächelten nicht, sahen aus wie Richterinnen über den eigenen beschuldigten Alltag. Warum nicht mehr Wärme, Sinnlichkeit ausstrahlen, sich selbst mehr Fröhlichkeit und Trost spenden? Die Männer sahen Martina anders an als Martin. Keine zweifelnden oder spöttischen Blicke mehr, die ihn zwangen, die Augen nach unten zu
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