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Bodin Lacht

Bodin Lacht

Titel: Bodin Lacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvie Schenk
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hatte mehrere Selbstmordversuche unternommen, dabei die falschen Medikamente eingenommen; sie war natürlich nicht mehr in der Lage, eine freundschaftliche Beziehung einzugehen, ganz zu schweigen von einer Liebesbeziehung. Sie bewegte sich wie ein geblendeter Vogel, der gegen jede Glasscheibe stoßen kann, eckte an jedem Mitmenschen an, ging blind über die Straße und wurde von einem Autofahrer angefahren. Sie kam zu ihm auf Krücken gestützt: ein gebrochener Unterschenkel. Eine Ausbildung als Krankenschwester scheiterte nach drei Wochen, nachdem sie verdächtigt wurde, Schmerz- und Schlaftabletten für ihre Selbstmordversuche geklaut zu haben (das stimmte). Bodin empfand für sie eine unerklärliche Zuneigung, sie war ein bescheidenes Wesen mit kindlichen Gesichtszügen und einem bodenlosen Blick, der ihm eine tiefe Sympathie einflößte. Ihr Wissen um das Böse im Menschen, ihre Todessehnsucht, ihre Jugend hatten ihn damals seine Ohnmacht verfluchen lassen. Er glaubte, sie bis in ihr tiefstes Inneres zu verstehen, das Zerbrochene in ihr, das Aufbrodelnde empfand er nach, konnte jedoch nicht helfen, und seine Machtlosigkeit ließ ihn ernsthaft an seinem Beruf zweifeln. Er wollte mindestens diese junge Patientin retten, ein Mädchen, das aus seinem vergangenen Leben herauszutreten schien und das ihm so nahe und so wesentlich geworden war, dass er sich zum ersten Mal in seiner Karriere zusammennehmen musste, um sie nicht in die Arme zu nehmen, wie ein Kind zu wiegen und sie bei sich zu behalten. Er versuchte trotzdem, die Distanz zu halten, war aber mit ihr nach zwei Jahren erfolgloser Therapie und einem neuen Selbstmordversuch (die Venen länglich eingeschnitten, aber nur an einem Arm) gegen jede ethische Regel seines Berufs einen Deal eingegangen: Sie sollte sechs Monate lang in den Alpen wandern, am besten im Ausland, Italien, Frankreich oder Schweiz, jeden Tag, bei jedem Wetter, und, nützte es nichts, verlangte es sie immer noch nach dem Tod, sei er bereit, ihr zu einer schmerzlosen Selbstauslöschung zu verhelfen. Er hatte es ihr feierlich geschworen und ihr den ebenfalls feierlichen Schwur abgenommen, dass sie in dieser Wanderzeit keinen Selbstmordversuch machen, sich von keinem Fels stürzen würde. Er hatte ihr sogar das nötige Geld gegeben, und sie hatten bei den drei letzten Sitzungen an Stelle des erfolglosen Redens und Schweigens längere Strecken auf Alpenwegen der Schweiz zusammen ausgewählt. Er hatte sie Ende April zum Bahnhof gefahren, und auf dem Bahnsteig, kurz bevor sie in den Zug nach Konstanz stieg, geschah eine kurze und schüchterne Umarmung.
    Christine hatte ihr Wort gehalten, sie war im Engadin und Wallis unaufhörlich gewandert, quer durch die Schweiz, von Murten nach Bellinzona, vom Bodensee nach Genf, einige Strecken mit dem Postbus gefahren, um eine andere Route zu erreichen, sie hatte in ihrem Zelt oder bei schlechter Witterung in Hütten und preiswerten Herbergen geschlafen, zuletzt, wie sie schrieb, und er glaubte es ihr, hatte sie sich auf hohe alpine Wege getraut und Spaß daran gefunden, steile und schmale Wanderwege zu erobern, sich auf luftigen Graten und sogar auf Klettersteige zu wagen, ich bin schwindelfrei, schrieb sie, schwindelfrei, wiederholte er in seinem Sessel, das Kind ist schwindelfrei, sie war, dachte er, so mutig wie verzweifelt, immer mutiger und immer weniger verzweifelt, und er war stolz auf sie und auch auf sich, dass er sich entschieden hatte, sie wegzuschicken. Er hatte Ansichtskarten aus Sion, Saas Fee und kleinen, ihm unbekannten Orten erhalten, kleine Lebenszeichen mit einigen Zeilen nur, und zuletzt erzählte sie vom Gipfel Daubenhorn, den sie mit einem »Kletterfreund« besteigen wolle, und auch das glaubte er ihr, freute sich aber weniger und spürte jetzt eine schmerzhafte Sehnsucht nach dem Mädchen, das seit seiner Abreise immer mehr »sein Mädchen« geworden war. Sein Mädchen, das jetzt flügge war. Er hatte nie an einen endgültigen Aufbruch gedacht, er war sich sicher, nahezu sicher gewesen, dass sie zurückkommen würde, und, wenn nicht ganz geheilt, mit viel mehr Selbstvertrauen und Lebenslust. Zuletzt, es war Herbst, bekam er eine letzte Karte: Bei einem Schneesturm auf »fast dreitausend Metern« habe sie einen Bergführer kennengelernt, mit dem sie jetzt leben wolle. Christine war in der Schweiz geblieben. Sie war, schrieb sie, »in einem hübschen

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