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Bodin Lacht

Bodin Lacht

Titel: Bodin Lacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvie Schenk
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richten, Martina spürte ihre Anerkennung, sie hatte keine Angst vor ihnen. Sie zog allerdings nur eine bestimmte Art von Männern an, die Martin als Freunde nicht hätten haben mögen, schüchterne Männer, die zwar nichts als Sexfantasien im Kopf hatten, aber nie wagten, sie anzusprechen. Ihr Leben drehte sich um die Achse des erigierten Penis, und in diesem Karussell lagen sie unterworfen und frustriert, wurden aber von großen, starken Frauen angezogen, die sich nie für sie interessierten. Dennoch genoss Martina die Blicke der Unbekannten, die unbekannt bleiben sollten.
    Sie betrat den Roten Ofen , einen kleinen Club, mehr eine zwielichtige Kneipe, in die sie schon lange nicht mehr ihre fein beschuhten Füße hineingesetzt hatte.

FELD 27: EINE ANSICHTSKARTE
    Nun, es wird nicht weit mehr geh’n
An dem Wanderstabe.
Krähe, laß mich endlich seh’n,
Treue bis zum Grabe!
    W ILHELM M ÜLLER,
Die Winterreise, Die Krähe
    Unterdessen lag Herr Doktor Bodin auf der Couch in seiner Praxis. Er hielt eine Ansichtskarte in den Händen, die aus einer Mappe geglitten war, als er sich anschickte, seine zahlreichen Notizen und Patientenakten wegzugwerfen. Berghänge um ein kleines Dorf, im Vordergrund ein runder See, in dem sich Wollgräser spiegelten. Eine Briefmarke aus der Schweiz. Der Stempel nicht ganz lesbar, aber zwölf oder dreizehn Jahre alt, mindestens. Die geschriebenen Zeilen stammten von Christine Droemer, einer seiner Patientinnen, die sich in seiner Praxis ausgeweint hatte. Er blätterte in der Mappe. Nie hatte er ein Gespräch aufgezeichnet, sondern nur ein Stichwortprotokoll angefertigt, nach der Therapiestunde mit weiteren Anmerkungen versehen. Jetzt hatte er Schwierigkeiten, die eigene Schrift zu entziffern, die fein mit dem Füller gekritzelten Großbuchstaben, Kürzungen, hier und da ein verblasstes Wort, belanglos, Epiphanie (?), T stand für Traum und L für Lust, LL für Lustlosigkeit, Vh für Verhältnis, eine stehende Acht war sein Zeichen für Inzest, SV bedeutete symbolische Vagina, die horizontale acht für Ehe, Kp, kaputt. Die in Tinte eingeweckten Schicksale (S) waren abgelaufen, wollte er die drohende Depression abwehren, musste er sofort das belastende Gekritzel wegschmeißen. Die Zeit, in der diese Dramen von ihren Hauptdarstellern mit zitternder oder monotoner Stimme vorgetragen wurden, diese Zeit war abgelaufen. Ausgelöscht die fein oder grob formulierten Sätze, ausgepustet die krächzenden und erwürgten Stimmen, begraben die Autoren, Akteure, Zuschauer und Schauplätze ihrer Dramen, fortgespült der Rotz und die Tränen! Das Knurren und Kullern der Seelen hatten sich in der verbrauchten Luft dieses Zimmer aufgelöst und jetzt waren die letzten, schriftlichen Spuren im Altpapier gelandet. Herr Doktor Bodin hatte eine Akte nach der anderen in den Papierkorb geschmettert. Friede ihren baldigen Aschen!
    Die Akte von Christine Droemer, sagte er laut, wollen wir aber noch behalten.
    Er nickte auf der Couch ein. Seine Patienten folgten ihm, alle in schwarzen Umhängen mit Kapuzen, so wie die Waisenkinder in den fünfziger Jahren sie noch trugen, zu einem steilen Gipfel kletterten sie ihm nach, dort angekommen, ermutigte er den Ersten, in den Abgrund zu springen und alle anderen stürzten sich nacheinander in die Leere, wie die Schafe. Er beobachtete die Szene und hörte das hinabsinkende Blöken der Kinder. Er fuhr auf. Die Karte von Christine Droemer hielt er noch in der Hand, und als er, noch vom Schlaf betäubt, beobachtete, wie die schwarzen Vögel vom Dach gegenüber abflogen und krähend auf sein Fenster zusteuerten, schützte er instinktiv seine Augen mit den Armen. Er kam zu sich und las wieder die Schrift der jungen Frau, der er auf seine brutale Art das Leben gerettet hatte. Sie war damals achtzehn und während einer Abiturparty von drei besoffenen Mitschülern vergewaltigt worden. Erst später hatte sie verstanden, wozu sie zu der Fete eingeladen worden war, sie, die sonst keiner aus diesen Kreisen einlud, weil sie strebsam, nicht sehr hübsch und gar nicht schick war. Sie hatte diese Vergewaltigung, die sie aus Scham nicht angezeigt hatte, nicht mal ihren Eltern gestanden, nur einer geliebten Großtante, die über eine dritte oder vierte Person von Bodin gehört hatte. Sie hatte das verstörte Mädchen zu ihm geschickt und die Psychotherapie bezahlt. Christine

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