Bodin Lacht
ein liebes Wesen, groÃzügig, klug und sensibel. Ihr Kind, das ihr und zu ihr gehörte. Ach, was sagte sie da? Ihr gehörte Martin nicht und zu ihr noch weniger, so ein Quatsch! Er schüchterte sie ein, er war in seiner Schönheit und Andersartigkeit unerreichbar und unbeeinflussbar, ein Mensch von einem anderen Kontinent, und das machte sie wütend und bange.
Nur verletzt schien er ihr ebenbürtig. Es gelang ihr aber immer seltener, ihm wehzutun. Er schaute sie mit seinen Rehaugen an, ein weit gereister Blick, und ihre Vorwürfe waren so wirkungslos, als hätte sie an einen Baum gepinkelt und der Wildgans die Zunge gezeigt.
Sie ging mit ihrem Glas nach drauÃen, um Otta zu füttern. Die aufkommende Nacht vermischte schon alle Farben. Und es begann zu schneien. Der November bescherte der Welt bauschige Flocken, verrückt wirbelnde, die immer schneller zu Boden fielen. Es sah fröhlich aus, machte betrunken, wenn man ihnen länger mit gehobenem Haupt zuschaute. Sie wünschte, Martin würde zurückkommen, sich umarmen lassen, sie wünschte, dass im Leben wahre Wunder möglich wären, dass sich Evelyns Stimme aus der stummen Flockensymphonie erhob: Liebe Paula, auch wenn Sie es noch nicht ahnen, erwartet Sie, euch alle, ein absolutes Glück namens Gott. Und Paula würde fragen, wie man sich das absolute Glück vorstellen könnte. Und Evelyn würde strahlen: Als die Auslöschung der Qual der Wahl, also der Irrtümer, alles, egal welchen Weg Sie da wählen und antreten, schlendern oder joggen Sie ins absolute Glück. Wie öde, sagte Simone, die nicht neben ihr stand, da bleibe ich lieber eine Sünderin auf der Erde und verteidige mein Recht auf krasses Unglück.
Paula lachte. Unter dem grauen Himmel erhoben sich die schwarzen Nonnen ihrer Kindheit, Menhire des Todes, der Gedanke an Gott war eine Infektion. Man hatte sie schon als Kind damit infiziert. Gott ist vor Billionen Jahren explodiert, sagte Simone. Wir alle zusammen bilden jetzt einen zerstückelten, parzellierten Gott, Martin, Bodin, Simone, Evelyn, ihr Mörder, sie selbst, sogar die unfähigen Kripomenschen, alle Menschen sind Ãberreste von Gott. Igittigitt. Verkrüppelte Götter ohne Macht. Paula wünschte, unsichtbar in den Körper und in den Geist ihres Sohns einzudringen, um das fremde Mädchen in seinen Zellen aufzufressen, und dass er, leicht und männlich, seinen neuen Weg antreten könnte, sie wünschte, dass sie ihm unsichtbar vorangehen könnte, um ihm alle Schranken und Türen zu öffnen, um jeder drohenden Demütigung, jedem Schmerz, jedem Unfall vorzubeugen. Er war zwei Jahre alt und unter den Kleinkindern das Sternchen, um das jede Mutter sie beneidete, er war vier und sein Anmut glich noch die Unruhe der Eltern aus, die, nach einigen Beratungsgesprächen mit Ãrzten, das sonderbare Geschlecht des Kindes am liebsten ignorierten. Er war sechs und ein Musterschüler, den alle Lehrer süà und liebenswert fanden, er war acht, als er aufhörte zu fragen, zehn, als er ablehnte, zum Arzt zu gehen, fünfzehn, als er sie lange ansah und mit groÃer Liebenswürdigkeit log: Hör auf, dir Sorgen zu machen. Ich kann gut damit leben. Gut damit leben! Mit diesem Gemeinplatz versuchte ein junger Mensch, das AuÃerordentliche zu einer banalen Angelegenheit des Lebens herabzustufen. Das Kind Martin versuchte, ihr stacheliges Dasein zu ebnen, er schmierte Salbe auf ihre Wunden, schaute sie mit seinen groÃen Unisex-Augen an und brachte ihr Herz zum Schmelzen.
Otta watschelte quakend zu ihr und schaute sie mit einem leeren Auge an. Auch sie ein Krümelchen Gott. Paula trank aus und versprach sich, wenigstens für den Abend nicht mehr zu saufen. Leeres Glas, leere Versprechungen, schnatterte ihr Otta nach.
FELD 26: TÃR AUF
Manchmal ist man von sich ebenso verschieden wie von anderen.
J EAN DE L A B RUYÃRE
An einem Spätnachmittag saà Martin am Schreibtisch und beobachtete die Kinder vom Hochhaus gegenüber. Die Wohnungen gingen alle auf einen Laubengang, der von einer schweren Glastür gegen das Treppenhaus abgeschlossen war. Sieben oder acht kurdische Kinder liefen, rannten, hüpften da regelmäÃig vorbei. Gerade räumten zwei groÃe Mädchen Schuhe in die Fächer eines Schuhschranks ein, der an der Wand vor der Wohnungstür stand. Wenn jemand die Wohnung betrat, zog er die Schuhe aus und steckte sie
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