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Bodin Lacht

Bodin Lacht

Titel: Bodin Lacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvie Schenk
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Wie war es, in einem Schweizer Kaff zu wohnen, immer dieselben Gesichter zu treffen, dreißig Kilometer fahren zu müssen, um zu seinem Gymnasium zu kommen, die Freude zu spüren, wenn man in der Großstadt völlig fremde Menschen antraf, die nichts über einen wussten, über die Jugendsünden, über die Probleme der Eltern, niemand, der aus dem Fenster herausschaut, um festzustellen, um wie viel Uhr und aus welchem Haus man herauskommt. Christine Droemer lebte, wenn sie noch hier lebte, in einem Dorf, das sich mit drei anderen eine Grundschule und ein Rathaus teilte. Er fragte den Kellner nach einem Bus in die Richtung des Dorfes, das er aufsuchen wollte, und dieser fragte ihn in Hochdeutsch, ob er aus Deutschland komme und hier Ferien machen wolle. Die einfache Frage überraschte ihn so, dass er nur mit dem Kopf nickte.
    In dem fast leeren Postbus schlug seine Hochstimmung um. Sie fuhren über eine schmale Straße und durch mehrere Tunnels; er saß vorn und die blendenden Lichter der entgegenkommenden Autos ließen in ihm eine rätselhafte Angst aufflackern, die er so noch nicht erlebt hatte und die nichts mit eventuellen Verkehrsrisiken zu tun hatte. Er war schon auf gefährlicheren Straßen gefahren, allerdings immer selbst am Steuer. Er war ein selbständiger Autofahrer, kein routinierter Busreisender, und das Gefühl des Ausgeliefertseins machte ihm zu schaffen. Vielleicht. Oder die Tatsache, dass er jetzt unabwendbar einem unsicheren Weg folgen würde, den er sich aber selbst ausgewählt hatte. Er schielte auf ein altes Paar zu seiner Linken, das kein Wort austauschte, nur unaufgeregt dasaß und mit schläfrigen Augen nach vorn blickte. Kein Zucken in den gerunzelten Gesichtern, nur Müdigkeit. Seine Aufregung ließ ihn schwitzen, er tupfte sich das Gesicht mit dem Taschentuch, versuchte, sich mit der Landschaft abzulenken, aber so mäandernd wie die Straße nahmen ihn seine Gedanken in ein Leben mit, in dem Vergangenheit und Zukunft oder vielmehr Erinnerungen, Hoffnungen und Ängste sich so nahe kamen, dass er noch nie das Nichtvorhandensein der Gegenwart so mächtig gespürt hatte. Er zwang sich, Fluss und Berge genauer zu betrachten, damit er sich wieder im Hier und Jetzt verankert fühle. Der tiefste Teil der Schlucht lag jetzt hinter ihm, die Straße führte nur ein paar Meter oberhalb des Flussufers entlang. Vom Busfenster aus beobachtete er einen Bergstrom, der sein grünes Wasser gewaltig wälzte. Er sah auf die weißen Hänge der Berge und wieder auf die donnernden smaragdgrünen Wirbel des Flusses. Sein Herz raste. Der Bus fuhr mit ihm ins Unbekannte und die Welt drehte sich. Etwas Undefinierbares in ihm hatte sich vorher in den Tunnels verschoben. Er wäre gern ausgestiegen, hätte sich gern auf den alten, zerbröckelnden Meilenstein gesetzt, an dem sie gerade vorbeigefahren waren. Was wollte er nach seiner Ankunft, falls er ankäme, in diesem Dorf tun? Er hatte nicht einmal ein Zimmer reserviert, und das um diese Jahreszeit, wenn der Schnee drohte, Verkehrsstraßen zu blockieren, Dörfer zu isolieren. Niemand hatte ihn gezwungen, jetzt am Arsch der Welt zu verweilen, er war auch kein geborener Globetrotter und auch kein untröstlicher Ehemaliger, der gern erfahren würde, was aus der Herzensfreundin geworden war. Christine war schließlich nur eine seiner Patientinnen, er hatte keine Adresse, nur den Namen eines Dorfes, wo sie vor zwanzig Jahren gelebt haben soll, und er kannte nur ihren Mädchennamen. Er hatte zwar die Absicht gehabt, bei den Bergführern des Ortes anzurufen, als er aber beim ersten Versuch die Stimme eines Kindes hörte, Hallo? Hallo?, hatte er sofort aufgelegt. Viele Jahre waren seit Christine Droemers Behandlung verflossen, Jahre, in denen sie ein Leben aufgebaut, ihre Depression überwunden hatte. Ihr Gesicht würde sich auch verändert haben, vielleicht würden sich die ersten Falten wie bei noch jungen Frauen aus den Bergen abzeichnen, ihr Haar würde sie jetzt kurz tragen, ihr rheinischer Akzent hätte sich mit dem hiesigen Dialekt vermischt, sie würde mit Mann und Kind ein solides, beschäftigtes Leben führen. Sie war unter den Fittichen ihres Bergsteigers auch eine bemerkenswerte Kletterin geworden, saß möglicherweise auf einem Bauernhof und buk Käsetorten mitten in der Schweizer Einöde, hatte einen Jodelkurs oder Kurse über heilende

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