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Bodin Lacht

Bodin Lacht

Titel: Bodin Lacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvie Schenk
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den seinen tasteten, das Paradies ist ein mit normgerechten Gefühlen gepflasterter Gemeinplatz. Er war achtzehn, als eine zu spät diagnostizierte Lungenentzündung die Mutter ins Krankenhaus brachte. Er hatte ihr einen kleinen Koffer mit Nachtwäsche gebracht. Sie rang um Luft und der Arzt ließ ihn allein mit ihr im Zimmer mit dem Rat: Nehmen Sie jetzt Abschied von Ihrer Mutter. Bodin näherte sich der kleinen Frau, die hager und grau dalag und wie eine schwitzende Greisin aussah. Die Mutter, die noch nicht fünfzig war. Ein paar Stunden davor hatte sie noch gesprochen, von früher erzählt, Namen genannt, auch Clothildes Namen, ja, ihr Sterbenswörtchen war Clothilde. Er schwitzte vor Angst, streichelte der Mutter das Haar, die Wange, die Schulter. Jetzt hechelte sie. Er hechelte mit, sah die unsichtbare Hand, die das Leben aus ihrer Mutter riss. Gott war ein Lebensdieb. Die letzten Tropfen Lebendigkeit wurden von ihr ausgewrungen, hinterließen feuchte Spuren des hohen Fiebers auf der Stirn, die Mutter stöhnte nicht mehr, sie wurde immer fahler, und Jürgen versuchte, ihr noch in die Augen zu sehen, blaue Augen, die verblassten, und er schloss schnell die eigenen, weil die Mutter immer alles von ihm gewusst hatte, alles erraten, das Beste, das Schlimmste, und in seinen Pupillen spiegelte sie sich als sterbender Mensch, sie wusste, dass er ihr jetzt einen schnellen Tod wünschte, weil er ihr Röcheln nicht mehr ertrug. Noch zitterte das Leben am Rand ihrer Lippen und sie griff nach seiner Hand, seufzte, ach, wie gefügig sie immer gewesen war, die Putzfrau, wie viel größer als all die großen Philosophen der Antike, die Mutter. Du bist jetzt groß genug. Jürgen konnte sich noch schnell über ihren Mund beugen und ihren Atem einatmen, du bleibst bei mir, sagte er, für immer bei mir, dann öffnete er das Fenster und das schwache Winterlicht blendete ihn. Jürgen Bodin hielt die Arme um seine Brust gekreuzt, da, wo ein bisschen Mutter noch mitatmete. Das Leben herrschte, hart und laut.

FELD 36: SPIEGEL
    Jedermann schaut vor sich, ich schaue in mich hinein, ich habe es nur mit mir selbst zu tun, ich beobachte mich unablässig, ich prüfe mich, ich koste mich (…) ich wälze mich in mir selbst.
    M ICHEL DE M ONTAIGNE
    Paulas Worte folgten Ottas Runden, den Achtern und Spiralen im Becken, und so wurden sie ins Wasser (wenn auch in Spiegelschrift) geschrieben: Liebe Otta, der erste Spiegel der Menschheit war die Oberfläche des Wassers, das Wasser war gnädig, es spiegelte nur andeutungsweise das Antlitz der Frau, so konnte sie Schönheit und Hässlichkeit nicht auseinanderhalten, Altersspuren sowieso nicht. Ich frage mich, ob du dich im Wasser bewundern kannst, ob du etwas anderes siehst als dein bisschen Schatten, wenn gerade die Sonne scheint, und ob du weißt, der Schatten, der dich begleitet oder dir vorangeht, gehört zu dir. Das Unglück der Frauen, fürchte ich, stammt aus der Zeit des Glases, spätestens mit dem Besitz des Spiegels wurde der Frau klar, warum der Mann sie begierig ansah oder warum er sich von ihr abwendete.
    Paula ging wieder ins Haus und schrieb im »Roman meines Lebens« weniger lösliche Worte:
    Als ich aus unserem Bett stieg, stakste eine alte Frau ins Bad. Als er aus unserem Bett stieg, verwandelte ein Magier das Zimmer.
    Als ich ihn (von seinem angeblichen Auftritt in einer fremden Stadt) zu seiner Frau zurückschickte, sagte ich ihm zum Abschied, ich würde mich auf seinen Auftritt zu meinem Geburtstag freuen und dazu einige nicht unwichtige Leute einladen. Das beflügelte ihn.
    Simone schellte und machte sich daran, die Küche ohne Gummihandschuhe zu putzen. Paula fragte sie, ob sie meine, dass eine Frau um die sechzig mit einem zwanzig Jahre jüngeren Mann ein Verhältnis haben dürfe. Simone verzog keine Miene und erwiderte, warum nicht, so was sei keine Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung, gehe allerdings meistens schief, da die jeweiligen Erwartungen auseinanderklafften, deshalb empfehle sie lieber der Sechzigjährigen, sich einen schönen Boy zu kaufen, dann komme kein Missverständnis auf, keine Illusion seitens der älteren Dame, und stattdessen ein geiler Spaß. Genau das hat meine Freundin gemacht, sagte Paula, ich hatte ihr denselben Ratschlag gegeben. Was macht das Studium, Kind? Ich büffle zurzeit für eine Klausur über das Prostitutionsgesetz von

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