Bodin Lacht
Tochter wohlhabender, katholischer Eltern, Jahrgang achtundfünfzig, musste sich regelmäÃig, aber vor allem jetzt, fragen, vor dem Spiegel, vor dem Teich, im Schlafzimmer und in der Küche, wer sie war, nicht nur, weil der Whisky ihre Sicht der Dinge und der eigenen Person trübte, nein, weil sie sich als Erdbewohnerin im Gegensatz zu Otta dieser Tatsache stets bewusst, im alkoholisierten Zustand sogar noch bewusster war, nur dass ihre Fragen heute wie das Klagelied eines Betrunkenen klangen, ein Schlager, der ohne diesen heruntergeleierten Refrain keinen umhauen würde: »Was bin ich? Wer bin ich? Was bist du? Wer bist du?« Studium der Veterinärmedizin wegen Ehemann abgebrochen, Herzensbrecher, glatt wie ein Wachstuch, alles rutschte an ihm ab, Lebemann und Gutmensch, Weinhändler, Liebhaber, Vater, Bonvivant und Macho, Herzinfarkt. Paula mit zweiundzwanzig unter der Haube, Jungfrau, wusste nicht genau, wo ihre Vagina steckte. Hatte übrigens neulich mit dem Musiker T. fein und diskret Schluss gemacht, denn gerade unter seinem muskulösen Leib musste sie sich nach Luft schnappend fragen, wer sie war. Die Antwort war ausnahmsweise zu eindeutig.
Daten sagen nichts.
Ihre Erinnerungen rieselten durch ein Sieb. Komische Klümpchen blieben im Sieb.
Wer war Evelyn? Die Vision eines Kadavers, der im Lauf der Jahre zusammen mit dem Holz des Sarges zu einem matschigen und wurmhaltigen Erdklumpen wird, brachte Paula zum Wahnsinn. Es kann nicht sein.
Es klingelte.
Ihr Sohn, der wahre Held ihrer Geschichte, geriet unschuldig in sein Unglück. Vorläufig war ihr Kind in Sicherheit, falls er bei Bodin war, und solange er dort blieb, würde ihm nichts passieren. Hoffentlich.
Sie ging auf und ab, sprach kurz mit Otta, sagte ihr: Jeder Mensch ist ein Cirque du Soleil, mein Sohn viel mehr als andere. Ob alle Fische im Aquarium noch leben? Ich werde eine neue Mutter Teresa kaufen für mein Kind. Simone kommt heute nicht. Simone putzt immer weniger gern, vielleicht könnte ich sie als Freundin engagieren. Sie würde mir zuhören.
Es wurde noch einmal geläutet.
Otta, was machen wir da? Auch dein Gedächtnis ist ein Cirque du Soleil, quakte der Vogel, voll überraschender Shows. Streng dich an. â Sie flüstert im Beichtstuhl: Habe nur zerstreut zugehört, sie stets unterbrochen, und vor dem Ende der Beichte â ja, in ihrem Ohr hatte die wimmernde Musik einer Beichte geklungen â dem Mädchen eine hochtrabende, schwülstige Absolution erteilt (mehr brauchst du mir nicht zu erzählen, Evelynchen, egal was du tust, du bleibst für mich eine fantastische Künstlerin und die Tochter meiner Träume), weil sie keine Lust hatte, in die Abgründe von Evelyns Leben zu tauchen. Sorgen habe sie selbst genug mit Martin. Ja, und sie hatte die aufgeregte junge Frau (deren kleines Kinn bebte, die Stimme wirkte abgeschnürt, die Hände zitterten um die Teetasse) mehr oder weniger gütig abgewiesen, und das war nicht gerade das, was Evelyn bei ihr suchte, diese flotte Abfertigung, dieses Alles-Mögliche-Verharmlosen, das ihr Paula anbot, sie wollte Trost und Rat, und das einzige Mögliche und Anständige wäre jetzt, sich wenigstens genauer zu erinnern.
Es klingelte.
Am Anfang von Evelyns Partitur findet sie: Evelyn Gorda ist die neue Klavierlehrerin von Martin. Reizendes Mädchen, Charme, Stil und Talent in einem. Ein erleuchtendes Lächeln. Und am letzten fatalen Tag: nur einige Stichworte zu ihrem Tod: umgebracht am Blausee. Kurz davor bei mir, sprach über verkorkste oder kaputte Beziehungen, sie wollte jemanden verlassen.
Es wurde geklopft und gerufen. Unerträglich.
Schmerzen. Ja, das Wort kam über Evelyns Lippen, sie klagte über Schmerzen, was für Schmerzen? Paula schrieb das Datum und: ich Esel, nicht zugehört. Keine Absolution.
Es klingelte Sturm und ihr Name wurde wieder gerufen. Sie musste nicht durch den Spion nachsehen, um zu wissen, wer da war.
Der Kripobeamte Andreas Moser und ein junger Bursche, den sie nicht kannte, musterten sie böse lächelnd. Pfui, brabbelte sie, was für ekelhafte Lebewesen. Sorry, ich war im Bad.
Sie schielten zu dem Glas in ihrer Hand und wollten wissen, wo ihr Sohn steckte. Sie bot ihnen nichts an und fragte nicht warum und wieso, sprach nur vom wissenschaftlichen Institut der Uni, schaute dabei hochmütig auf sie herab, und dann fragten sie schmierig höflich, ob sie sich bei
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