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Bodin Lacht

Bodin Lacht

Titel: Bodin Lacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvie Schenk
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Paradiesen und nicht existierenden Geliebten. Er hatte überlegt, ob er doch eine Schriftstellerkarriere angehen könnte, um aus der Lüge eine frische Wahrheit herzuzaubern, so hatte er einige Zeilen zu »Das tote Mädchen« getippt, fand aber nicht den richtigen Draht dazu und hörte bei Seite zwei auf.
    Eines Tages war Marion ohne zu klopfen in sein Zimmer marschiert und hatte den Titel erblickt, der sie sehr beeindruckte. Sie hatte ihn gedrängt, ihr von der Geschichte zu erzählen, was er aus gutem Grund abgelehnt hatte, keine Geschichte für kleine Mädchen, hatte er nur behauptet, und das trotzige Kind gierte vor Neugier, ließ ihn nicht los, warum ist sie tot, was ist mir ihr passiert, und: Geht es um die Frau, die Sie suchen, Sie haben doch die Bergführer hier gefragt, es hat sich herumgesprochen, aber warum suchen Sie diese Frau, wenn sie tot ist? Sie fragte, bis er sie hinausbeförderte, laut genug, dass Marions Mutter es mitkriegte und ihre Tochter für ihre indiskrete Art schalt. Marions Manieren änderten sich kaum, sie klopfte zwar jetzt an seine Zimmertür, störte ihn aber ungeniert weiter, meistens um ihm ihre Englischaufgaben aufzubürden. Ihre pubertäre Mischung aus Arroganz und Frechheit mit dem offensichtlichen Bedürfnis, sich interessant zu machen, vielleicht sogar ein bisschen Zuneigung seinerseits zu gewinnen, irritierte, ärgerte und berührte ihn. Auch die Stimmung der Familie schien ihm nicht ganz so friedlich und offen zu sein wie am ersten Tag. Es kriselte unterschwellig bei dem Paar Suter, spitze Bemerkungen der Mutter wurden am Tisch hörbar (der Vater schwieg meistens), öfter sprachen sie Schweizerdeutsch oder Französisch, man konnte allenfalls nur in den ersten Tagen für den Gast die intakte Ansichtskarten-Familie spielen.
    Eines Tages erinnerte ihn Christine Suter daran, dass sein Zimmer für die Weihnachtsferien gebucht war. Er brauchte sich nicht mehr den Kopf über eine eventuelle Abfahrt zu zerbrechen, er würde einfach in wenigen Tagen abreisen müssen. Bis dahin sollte er die Schneewelt weiter genießen.
    Er glitt im Pulverschnee der Sonne entgegen. Schneeflocken schwirrten in der Luft, weiter entfernt erhoben sich dunkel die Tannen. Seine Atemfahne wehte vor ihm, Beine und Schultern bewegten sich beschwingt, das Schlittern im weißen Feld war Spiel und reine Freude. Einmal mehr genoss er es, dass er nicht zu alt war, um neue Vergnügen zu erleben. Links und rechts wurde er mit einem »Grüezi« von einem jungen Paar überholt, bevor sie wieder nebeneinander ihre Fahrt fortsetzten, ein graziöses Fliegen, zwei lange Vögel mit riesigen Füßen verschwanden bald am Horizont. War es die Schönheit des Paars in seiner synchronen Bewegung oder war es ein leichtes Sinken des Lichts, es schlug ihm ein kalter Wind entgegen und es schwirrten wieder, verdammt noch einmal, die Fetzen eines alten Schmerzes. Seine eigene Analyse hatte ihn von der Pein, von der Scham, von der Scham über die Scham, nie befreit, das Ausgebrütete nie geklärt, auch das Verdrängen, das bis zum Erbrechen Wegdrücken, das verbissene Vergessen-Wollen hatte nicht geholfen. Ach, wie gut er seine narkotisierten Patienten verstand, die in den verschiedensten Drogen ihr Vergessen gesucht hatten!
    Als er sich am Abend nach dem Essen mit der Gastfamilie in sein Zimmer zurückzog, um ein paar Cognacs zu trinken, und sternhagelvoll in den Himmel schaute und von der Sehnsucht nach Christine Droemer oder einer anderen, einer Unbekannten, einer Unerreichten gepackt wurde, spürte er wieder und mehr als je die Unmöglichkeit eines runden Glücks.

FELD 52: ENGLISCHE VOKABELN
    Das Leben ist ein Gänsespiel
Je mehr man vorwärts gehet
Je früher kommt man an das Ziel
Wo niemand gerne stehet
    J OHANN W OLFGANG VON G OETHE
    Von Bodins Fenster aus schimmerte die Landschaft gespenstisch im Grauen der Dämmerung. Nackte Bäume zeichneten sich noch schwach gegen das Weiß des Schnees ab. Auch wenn diese Tageszeit ihn melancholisch stimmte, mochte er die zwielichtige Stimmung der frühen Winterabende in den Bergen, den Kontrast zwischen dem warm erleuchteten Chalet und der kalt anbrechenden Dunkelheit, die Gemütlichkeit des Inneren, das Irreale der Außenwelt. Es versetzte einen in die Märchen der Kindheit, wo kleine, arme Mädchen zum Erwärmen Streichhölzer anzündeten und Frau Holle es

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