Body Farm
sprechen ließ sowie das, was sie bei den monatelangen Untersuchungen sonst noch zu enthüllen wußten.
Doch Dr. Shade war trotz seiner gewaltigen Kompetenz ein bescheidener und introvertierter Mann von sehr sanftmütiger Art. Er war weit über sechzig, sein graues Haar war kurzgeschnitten, sein Gesichtsausdruck freundlich und gedankenverloren. Er war groß, kräftig gebaut und wettergegerbt wie ein Farmer, was natürlich Anlaß für weitere ironische Bemerkungen gab, und so war denn auch »Farmer Shade« einer seiner Spitznamen. Seine Mutter lebte in einem Altenheim und fertigte aus Stoffresten Ringe für die ordentliche Fixierung der Totenschädel an. Mir hatte er auch einmal welche geschickt; sie sahen zwar aus wie Doughnuts aus Kattun, waren aber sehr nützlich bei der Arbeit, weil Schädel eher unhandlich sind und ständig wegrollen, egal, wessen Gehirn sie einst beherbergt haben.
»Was haben wir denn da?« Ich trat näher und sah mir die Knochenstücke an, die mich an verbrannte Holzsplitter erinnerten.
»Eine ermordete Frau. Ihr Mann hat sie umgebracht und dann zu verbrennen versucht, und das ist ihm erstaunlich gut gelungen. Wirklich besser als in jedem Krematorium. Und doch hat er sich reichlich dumm angestellt. Das Feuer hat er nämlich im eigenen Hof gemacht.«
»Das war wirklich ziemlich dumm, würde ich sagen. Aber dumm ist auch ein Vergewaltiger, der seine Brieftasche am Tatort zurückläßt.«
»So einen Fall habe ich mal gehabt«, sagte Katz. »Erst bekomme ich einen Fingerabdruck aus dem Wagen des Opfers und bin mächtig stolz, bis ich höre, daß der Kerl seine Brieftasche auf dem Rücksitz liegengelassen hat. Der Fingerabdruck war danach nicht mehr so wichtig.«
»Was macht Ihr komischer Apparat?« fragte Dr. Shade Katz.
»Reich werde ich damit nicht.«
»Immerhin hat er damit einen großen Fingerabdruck von einem Slip nehmen können«, sagte ich.
»Stimmt.« Katz lächelte stolz.
»Nun, Ihr Versuch steht, Dr. Scarpetta, und ich bin sehr neugierig darauf.« Shade erhob sich von seinem Stuhl.
»Sie haben es sich noch gar nicht angesehen?« fragte ich.
»Nein, heute noch nicht. Für die endgültige Enthüllung haben wir auf Sie gewartet.«
»Natürlich, das tun Sie ja immer«, sagte ich.
»Und das bleibt auch in Zukunft so, es sei denn, Sie wollen ausdrücklich nicht dabeisein. Manche Leute wollen nicht.«
»Ich will immer dabeisein. Wenn ich erst mal nicht mehr will, sollte ich wohl den Beruf wechseln«, entgegnete ich.
»Das Wetter hat gut mitgespielt«, fügte Katz hinzu. »Optimal sogar«, verkündete Dr. Shade erfreut. »Es war genau so, wie es in dem Zeitraum zwischen dem Verschwinden des Mädchens und dem Auffinden ihrer Leiche gewesen sein muß. Und wir hatten Glück mit den Leichen, denn ich brauchte ja zwei und fürchtete schon, daß das so kurzfristig nicht klappen würde. Sie wissen ja, wie das geht.«
Ich wußte es.
»Manchmal bekommen wir mehr, als wir brauchen können, und dann wieder gar keine«, fuhr Dr. Shade fort. Wir gingen die Treppe hinauf.
»Die beiden, die wir diesmal bekommen haben, habe eine traurige Geschichte hinter sich«, sagte Dr. Shade.
»Traurig sind die Geschichten doch eigentlich immer«, erwiderte ich.
»O ja, das stimmt. Er, der Mann, hatte Krebs und rief an, um zu fragen, ob er seine Leiche der Wissenschaft zur Verfügung stellen könne. Das bestätigten wir, und er füllte das entsprechende Formular aus. Dann ging er in den Wald und schoß sich eine Kugel in den Kopf. Am Morgen darauf trank seine Frau, der es auch nicht gutging, ein ganzes Fläschchen mit einem starken Schlafmittel aus.«
»Und das sind also die beiden?« Mein Herz klopfte einen Moment lang etwas schneller, wie so oft, wenn ich derartige Geschichten zu hören bekam.
»Es passierte unmittelbar, nachdem Sie mir Ihren Plan eröffnet hatten, was natürlich sehr gut paßte«, sagte Dr. Shade. »Na ja, die beiden haben wirklich ein gutes Werk getan.«
»Das haben sie.« Ich wünschte, ich könnte diesen armen kranken Menschen, die vor unerträglichen Schmerzen in den Tod geflohen waren, irgendwie danken. Draußen stiegen wir in den großen weißen Lieferwagen mit Universitätswappen und Camperaufsatz, in dem Katz und Dr. Shade Leichen transportierten, die ihnen überlassen worden waren oder auf die niemand Anspruch anmeldete. Der Morgen war klar und frisch, der Himmel tiefblau.
Wir fuhren durch die Ausläufer der Smoky Mountains. Die Bäume strahlten in ihren herbstbunten
Weitere Kostenlose Bücher