Body Farm
Direkt vor uns fuhr ein Junge auf einem Fahrrad, und meine Scheinwerfer erfaßten die kleinen Katzenaugen an seinen Fußgelenken, aber ich kannte weder ihn noch das Paar, an dem wir vorbeifuhren. Die beiden hielten Händchen und hatten einen Hund an der Leine. Die Tupelobäume auf meinem Grundstück hatten wieder eine Schicht stacheliger Samen ausgestreut. Auf der Veranda lagen zusammengerollt ein paar Zeitungen, und die Mülltonnen standen noch draußen an der Straße. Ich brauchte gar nicht lange von zu Hause fort zu sein, und schon fühlte ich mich wie eine Außenseiterin, und meinem Haus sah man gleich an, daß niemand daheim war.
Lucy schleppte ihr Gepäck ins Haus, und ich zündete im Wohnzimmer das Gas hinter den Holzscheitattrappen im Kamin an und goß eine Kanne Darjeeling- Tee auf. Ein Weile saß ich allein vor dem Feuer und hörte zu, wie meine Nichte sich einrichtete und duschte, wobei sie sich in allem reichlich Zeit nahm. Wir hatten ein Gespräch vor uns, das uns beiden im Magen lag.
»Hast du Hunger?« fragte ich sie, als sie hereinkam.
»Nein, aber hast du Bier im Haus?«
Ich zögerte und antwortete dann: »Im Kühlschrank in der Bar.«
Ich lauschte noch ein wenig, ohne mich umzudrehen, denn wenn ich Lucy ansah, dann würde ich sie so sehen, wie ich sie sehen wollte. Gleich war es soweit, daß ich dieser erschreckend schönen und brillanten Frau entgegentreten mußte, mit der mich immerhin ein paar genetische Codeschnipsel verbanden, und während ich an meinem Tee nippte, wußte ich, daß ich dafür meine ganze Kraft brauchen würde. Nach all den Jahren wurde es Zeit, daß wir uns kennenlernten.
Sie kam zum Kamin, setzte sich auf den Boden, lehnte sich an die steinerne Einfassung und trank ihr Icehouse-Bier aus der Flasche. Sie hatte sich einen schreiend bunten Jogginganzug von mir ausgeliehen, den ich hin und wieder trug, wenn ich zum Tennis ging. Ihre Füße waren nackt, das nasse Haar zurückgekämmt. Bestimmt hätte ich mich, wenn ich sie nicht gekannt hätte, im Vorbeigehe n nach ihr umgedreht. Das lag nicht nur an ihrem schönen Gesicht und ihrer guten Figur. Man spürte förmlich die Leichtigkeit, mit der Lucy sich bewegte, sprach und wie sie Körper und Augen bis ins kleinste zu steuern wußte. Alles schien ihr leichtzufallen, und das mochte auch dazu beitragen, daß sie nicht viele Freunde hatte.
»Lucy«, begann ich unser Gespräch, »hilf mir, daß ich es verstehe.«
»Verdammt noch mal, ich bin aufs Kreuz gelegt worden«, sagte sie und nahm einen Schluck Bier.
»Wenn das stimmt, wie?«
»Was meinst du mit >wenn« Sie starrte mir ins Gesicht, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Wie kannst du auch nur einen Augenblick lang glauben... Ach, Scheiße! Worum geht's?« Sie sah weg.
»Ich kann dir nicht helfen, wenn du mir nicht die Wahrheit sagst«, erwiderte ich und beschloß, ebenfalls keinen Hunger zu haben. Ich ging zur Bar und goß mir einen Scotch über zerstoßenes Eis.
»Beginnen wir mit den Fakten«, schlug ich vor und kehrte zu meinem Sessel zurück. »Wir wissen, daß letzten Dienstag jemand um drei Uhr morgens die ERF betreten hat. Wir wissen, daß dabei deine PIN benutzt und dein Daumen gescannt wurde. Das System hat außerdem festgehalten, daß diese Person - noch einmal, mit deiner PIN und deinem Abdruck - sich in eine Reihe von Dateien eingeschaltet hat. Genau um 4.38 Uhr hat diese Person die ERF wieder verlassen.«
»Ich bin hereingelegt worden. Es war Sabotage«, sagte Lucy.
»Wo warst du, als es passiert ist?«
»Ich habe geschlafen.« Sie goß wütend das restliche Bier hinunter und holte sich ein neues.
Ich nippte langsam an meinem Scotch, denn einen Dewar's Mist kann man einfach nicht schnell trinken. »Es soll Nächte gegeben haben, in denen dein Bett unbenutzt war«, sagte ich ruhig.
»Und soll ich dir was sagen? Das geht niemanden etwas an.«
»Doch, das tut es, und du weißt das. Warst du in der Einbruchsnacht in deinem Bett?«
»Es ist allein meine Sache, in welchem Bett ich bin, wann und wo. Niemandes sonst«, sagte sie. Wir schwiegen, und ich dachte an Lucy, wie sie im Dunkeln auf dem Picknicktisch gesessen hatte, das Gesicht von einem Streichholz in den Händen einer anderen Frau beleuchtet. Ich hörte sie mit ihrer Freundin sprechen und wußte von den Gefühlen, die hinter ihren Worten steckten. Denn die Sprache der Intimität kannte ich gut. Ich wußte, wann Liebe in der Stimme eines Menschen mitschwingt, und ich wußte, wann
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