Body Farm
nicht.
»Wo genau warst du, als in die ERF eingebrochen wurde?« fragte ich noch einmal. »Oder soll ich lieber die Person fragen, bei der du warst?«
»Ich frage dich auch nicht, mit wem du zusammen bist.«
»Das würdest du, wenn du wüßtest, daß du mir damit eine Menge Probleme ersparen kannst.« Sie blieb hart.
»Mein Privatleben ist irrelevant.«
»Nein, ich glaube, du fürchtest die Ablehnung«, sagte ich. »Ich weiß nicht, wovon du redest.«
»Ich habe dich neulich abends am Picknickplatz gesehen. Zusammen mit einer Freundin.«
Sie sah weg. »Du spionierst mir also auch noch nach.« Ihre Stimme zitterte. »Jetzt bitte keine Predigten. Und versuch mir bloß keine Schuldgefühle einzureden, denn ich glaube nicht an diesen katholischen Kram.«
»Lucy, ich will dich nicht verurteilen«, sagte ich, obwohl ich es in gewisser Weise natürlich doch tat. »Hilf mir, dich zu verstehen.«
»Du meinst, daß ich mich unnatürlich und anormal verhalte, sonst müßtest du dich ja nicht um Verständnis bemühen. Ich möchte einfach ohne Hintergedanken so akzeptiert werden, wie ich bin.«
»Kann deine Freundin bestätigen, wo du am Dienstag um drei Uhr früh warst?« fragte ich.
»Nein«, war Lucys Antwort.
»Ich verstehe.« Daß ich Lucys Haltung akzeptierte, war das Eingeständnis, daß es das Mädchen, das ich gekannt hatte, nicht mehr gab. Von dieser Lucy wußte ich nichts, und ich fragte mich, was ich falsch gemacht hatte.
»Was hast du nun vor?« wollte sie wissen. Die Anspannung zwischen uns war um keinen Deut geringer geworden.
»Ich arbeite an diesem Fall in North Carolina. Ich habe das Gefühl, daß ich häufiger dort sein werde«, sagte ich.
»Und dein Dienst hier?«
»Fielding hält die Stellung. Morgen früh muß ich, glaube ich, vor Gericht aussagen. Ich muß Rose noch anrufen und sie nach der Zeit fragen.«
»Was ist das für ein Fall?«
»Ein Mord.«
»Das habe ich mir schon gedacht. Kann ich mitkommen?«
»Wenn du möchtest.«
»Na ja, vielleicht fahre ich auch nach Charlottesville.«
»Und tust dort was?« fragte ich.
Lucy sah mich ängstlich an. »Ich weiß nicht. Ich weiß nicht einmal, wie ich dahin komme.«
»Du kannst gern meinen Wagen nehmen, wenn ich ihn nicht brauche. Oder du gehst bis zum Semesterende nach Miami und dann wieder an die UVA.«
Sie trank den letzten Schluck Bier und stand auf. Wieder glänzten Tränen in ihren Augen. »Gib es schon zu, Tante Kay. Du glaubst, daß ich es getan habe, nicht wahr?«
»Lucy«, sagte ich ehrlich, »ich weiß nicht, was ich glauben soll. Du und die Beweise sprechen verschiedene Sprachen.«
»Ich habe dir immer vertraut.« Sie sah mich an, als hätte ich ihr das Herz gebrochen.
»Ich würde mich freuen, wenn du Weihnachten hier verbringst«, sagte ich.
11
Das Mitglied der North Richmond Gang, das am nächsten Morgen vor Gericht stand, trug einen zweireihigen Marineanzug und eine italienische Seidenkrawatte mit perfektem Windsorknoten; das weiße Hemd war frisch gebügelt. Der Angeklagte war frisch rasiert und hatte seinen Ohrring herausgenommen.
Tod Coldwell, sein Verteidiger, hatte für den guten Aufzug gesorgt, weil er wußte, daß die Geschworenen nur äußerst schlecht der Versuchung widerstehen können, den äußeren Anschein für bare Münze zu nehmen. Natürlich glaubte auch ich an diesen Grundsatz, und deswegen legte ich so viele Farbfotos von der Autopsie des Opfers als Beweismittel vor wie möglich. Es konnte kein Zweifel daran bestehen, daß Coldwell mich nicht besonders mochte. Es war ein kühler Herbsttag.
»Stimmt es nicht, Mrs. Scarpetta« - Coldwell baute sich großspurig vor dem Gericht auf - »daß ein Mensch unter dem Einfluß von Kokain äußerst gewalttätig werden und übermenschliche Kräfte entwickeln kann?«
»Gewiß kann Kokain den Konsumenten in Erregung versetzen und wahnhafte Vorstellungen in ihm hervorrufen«, fuhr ich mit meinen Ausführungen, an die Jury gerichtet, fort. »Übermenschliche Kräfte, wie Sie es nennen, kann man oft in Verbindung mit Kokain oder PCP beobachten - was übrigens ein Beruhigungsmittel für Pferde ist.«
»Und im Blut des Opfers ist beides gefunden worden, Kokain und Benzoylecgonin«, ergänzte Coldwell, als hätte ich ihn gerade bestätigt.
»Das stimmt.«
»Mrs. Scarpetta, könnten Sie dem Gericht wohl erklären, was das bedeutet?«
»Ich möchte dem Gericht zunächst einmal erklären, daß ich Doktor der Medizin bin und ein juristisches Examen abgelegt habe. Ich
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