Body Farm
Unterschrift konnte in Virginia niemand legal geboren oder begraben werden, und obwohl sie an ihrer Stadt hing wie eine Klette, kannte sie doch sämtliche Kolleginnen und Kollegen in den anderen Bundesstaaten. Im Laufe der Jahre hatte ich mich schon viele Male an Gloria gewandt, um zu erfahren, ob eine bestimmte Person je auf diesem Planeten existiert hatte, ob sie verheiratet war, geschieden oder adoptiert. Ich hörte, daß sie zum Lunch in der Cafeteria des Madison Building sei. Um Viertel nach eins fand ich Gloria allein an einem Tisch vor einer Tasse Tee, einem Vanillejoghurt und einem Fruchtcocktail aus der Dose. In erster Linie aber war sie mit der Lektüre eines dicken Taschenbuchthrillers beschäftigt, einem Bestseller laut New York Times, wie der Umschlag verkündete.
»Wenn ich so etwas essen müßte, würde ich es genauso machen«, sagte ich und zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor.
Sie sah mich zunächst ausdruckslos, dann erfreut an. »Gütiger Gott! So ein Zufall. Was treibst du denn hier, Kay?«
»Ich arbeite da gegenüber, falls du das vergessen hast.«
Sie lachte amüsiert. »Möchtest du einen Kaffee, meine Liebe? Du siehst müde aus.«
Gloria Lovings Name hatte sie von Geburt an geprägt, und sie hatte ihm stets alle Ehre gemacht. Sie war eine große, großzügige Person in den Fünfzigern, der jede Urkunde, die über ihren Schreibtisch ging, am Herzen lag. Dokumente waren für sie mehr als nur Papier, und sie würde für jeden einzelnen Fall Gott und die Welt in Bewegung setzen, wenn es galt, jemandem zu helfen. »Nein, danke, keinen Kaffee«, sagte ich.
»Also, ich habe gehört, du arbeitest drüben gar nicht mehr.«
»Es freut mich immer wieder, wie einen die Leute gleich abschreiben, wenn man sich mal ein paar Wochen nicht blicken läßt. Ich bin jetzt Beraterin beim FBI, und ich bin viel unterwegs.«
»Unterwegs in North Carolina. Das weiß ich aus den Nachrichten. Sogar Dan Rather hat kürzlich abends über die kleine Steiner gesprochen. Und CNN hatte sie auch drin. Mein Gott, ist das kalt hier.«
Ich sah mich in der zugigen Cafeteria um, deren wenige Besucher alles andere als einen zufriedenen Eindruck machten. Die meisten hockten tief gebeugt über ihren Tabletts, die Jacken und Pullover bis zum Kinn zugeknöpft. »Stell dir vor, sie mußten alle Thermostate auf siebzehn Grad herunterschrauben, um Energie zu sparen - wenn das nicht der größte Witz aller Zeiten ist«, fuhr Gloria fort. »Wir werden nämlich mit Fernwärme aus dem Medical College von Virginia versorgt, und deswegen spart das Runterdrehen der Thermostate kein einziges Watt Elektrizität.«
»Es fühlt sich hier kälter an als siebzehn Grad«, meinte ich dazu.
»Weil wir in Wirklichkeit knapp zwölf Grad haben, ungefähr soviel wie draußen.«
»Du kannst gern zu mir rüberkommen und mein Büro benutzen«, sagte ich mit einem verschmitzten Lächeln.
»Nun ja, das wird wohl der wärmste Platz der ganzen Stadt sein. Was kann ich für dich tun, Kay?«
»Es geht um einen Fall von plötzlichem Kindstod, der angeblich vor etwa zwölf Jahren in Kalifornien passiert ist. Das Kind hieß Mary Jo Steiner, die Eltern Denesa und Charles.«
Sie schaltete natürlich gleich, war aber zu professionell, um nachzufragen. »Kennst du den Mädchennamen von Denesa Steiner?«
»Nein.«
»Wo war das in Kalifornien?«
»Auch das weiß ich nicht«, sagte ich.
»Gibt es eine Möglichkeit, das herauszufinden? Je mehr Informationen ich habe, desto besser.«
»Mir wäre es lieber, wenn du erst einmal mit meinen Angaben versuchtest, etwas in Erfahrung zu bringen. Erst wenn du damit nicht weiterkommst, werde ich zusehen, was ich noch herausbekomme.«
»Du sagst angeblicher Kindstod. Gibt es einen Verdacht, daß es sich vielleicht nicht darum gehandelt hat? Das muß ich wissen, denn dann könnte es anders registriert sein.«
»Angeblich war das Kind ein Jahr alt, als es starb. Und das stört mich doch sehr. Wie du weißt, liegt im allgemeinen das Alter für den sogenannten Krippentod bei drei bis vier Monaten. Bei Kindern über sechs Monate ist er unwahrscheinlich. Nach einem Jahr muß man fast immer nach einer anderen verborgenen Ursache für einen plötzlichen Tod ausgehen. So gesehen, könnte er durchaus unter einem anderen Stichwort registriert sein.«
Gloria spielte mit ihrem Teebeutel. »Wenn es sich um Idaho handeln würde, müßte ich nur Jane anrufen. Die könnte dann die Krankenblätter zum Stichwort >plötzlicher Kindstod<
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