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Böse Geister: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Böse Geister: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Böse Geister: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor M. Dostojewskij
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    »Schweigen Sie!« rief Schatow plötzlich aus. »Ich bin tumb und ungeschickt, mag doch mein Name in Lächerlichkeit untergehen! Würden Sie mir erlauben, Ihren wichtigen Gedanken von damals zu wiederholen, vor Ihnen? … Oh, nur zehn Zeilen, nur die Zusammenfassung.«
    »Wiederholen Sie ihn, wenn es nur eine Zusammenfassung ist …«
    Stawrogin wollte schon seine Uhr ziehen, beherrschte sich aber und blickte nicht hin.
    Schatow beugte sich wieder auf dem Stuhl vor und hob sogar für einen Augenblick abermals den Zeigefinger.
    »Kein einziges Volk«, begann er, als lese er Zeile für Zeile ab, aber ohne seinen drohenden Blick von Stawrogin abzuwenden, »kein einziges Volk hat sich je nach den Prinzipien von Wissenschaft und Vernunft gerichtet: es gab noch kein Beispiel dafür, es sei denn für einen Moment, aus Dummheit. Der Sozialismus muß seinem Wesen nach Atheismus sein, er verkündete gleich im ersten Satz, er gehe von atheistischen Grundsätzen aus und sei willens, sich ausschließlich von den Prinzipien von Wissenschaft und Vernunft leiten zu lassen. Vernunft und Wissenschaft haben im Leben der Völker immer, sowohl heute wie auch am Anfang aller Zeiten, eine zweitrangige und dienende Rolle gespielt, und diese Rolle werden sie bis ans Ende der Zeiten spielen. Die Völker werden von einer anderen Kraft gebildet und bewegt, einer gebieterischen und beherrschenden Kraft, deren Ursprung allerdings unbekannt und unerklärlich ist. Diese Kraft ist die Kraft des unermüdlichen Begehrens, ein Ende zu erreichen, das sie gleichzeitig verneint. Es ist die Kraft der ununterbrochenen und unablässigen Bejahung des eigenen Seins und der Verneinung des Todes. Es ist der Geist des Lebens, die › Ströme lebendigen Wassers ‹, wie die Schrift sagt, und mit deren Versiegen die Offenbarung droht. Ein ästhetisches Prinzip, wie die Philosophen sagen, das sie, die nämlichen Philosophen, mit dem ethischen identifizieren. ›Die Suche nach Gott‹, so nenne ich es wohl am einfachsten. Das Ziel einer jeden Bewegung der Völker, eines jeden Volks in jeder Periode seines Seins, ist einzig und allein die Suche nach Gott, seinem eigenen Gott, unbedingt seinem eigenen, und der Glaube an ihn als den Einzigen und Wahren. Gott ist die synthetische Person eines ganzen Volkes, von seinen Anfängen bis zu seinem Ende. Es ist noch nie vorgekommen, daß alle oder mehrere Völker einen gemeinsamen Gott gehabt hätten, sondern immer hatte ein jedes seinen eigenen. Es ist ein Zeichen für den Niedergang der Völker, wenn die Götter allen gemeinsam werden. Sobald die Götter allen gemeinsam werden, sterben die Götter und auch der Glauben an sie und auch die Völker selbst. Je stärker ein Volk, desto besonderer ist sein Gott. Noch nie hat es ein Volk ohne Religion gegeben, das heißt ohne Begriffe von Gut und Böse. Jedes Volk besitzt einen eigenen Begriff von Gut und Böse und sein eigenes Gut und sein eigenes Böse. Sobald sich die Begriffe von Gut und Böse bei mehreren Völkern angleichen, sterben diese Völker aus, und der Unterschied zwischen Gut und Böse beginnt zu verschwimmen und zu verschwinden. Niemals war die Vernunft imstande, Gut und Böse zu definieren, sie war nicht einmal imstande, zwischen Gut und Böse eine Grenze zu ziehen, auch nicht annähernd; ganz im Gegenteil, sie hat beides stets schändlich und jämmerlich vermischt; die Wissenschaft aber lieferte nur Gewaltlösungen. Dies zeichnete besonders die Pseudowissenschaft aus, die schrecklichste Geißel der Menschheit, schlimmer denn Seuchen, Hunger und Krieg, die erst in unserem Jahrhundert bekannt wurde. Pseudowissenschaft – das ist ein Despot, wie ihn die Welt bis jetzt noch nicht gesehen hat. Ein Despot, der über seine eigenen Priester und Sklaven verfügt, ein Despot, der von allen angebetet wird, mit einer Liebe und einem Aberglauben, die bis jetzt undenkbar waren, vor dem sogar die Wissenschaft zittert und dem sie schmählich nach dem Munde redet. Dies alles sind Ihre eigenen Worte, Stawrogin, ausgenommen die Worte über die Pseudowissenschaft; die sind von mir, weil ich selbst nur Pseudowissenschaft bin und sie deshalb besonders hasse. An Ihren Gedanken und sogar an Ihren Worten habe ich nichts geändert, kein einziges Wort.«
    »Ich kann mir nicht denken, daß Sie nichts geändert hätten«, bemerkte Stawrogin vorsichtig. »Sie haben das alles feurig aufgenommen und haben es ebenso feurig umgedeutet, ohne es zu merken. Schon allein die

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