Böse Geister: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Hinterhaus seit etwa zehn Jahren in Ruhe, Wohlstand und Pflege Semjon Jakowlewitsch wohnte, unser Gottesnarr und Prophet, der sich nicht nur bei uns, sondern auch in den umliegenden Gouvernements und sogar in den Metropolen einer gewissen Berühmtheit erfreute. Er wurde aufgesucht, vor allem von Reisenden, die von dem Gottesnarren einen Spruch erhofften, ihn verehrten und beschenkten. Diese Geschenke, mitunter nicht unbeträchtliche, wurden, soweit Semjon Jakowlewitsch nicht persönlich darüber verfügte, gottesfürchtig an die Kirche, vorwiegend an unser Bogorodskij-Kloster, weitergegeben; das Kloster hatte zu diesem Zweck einen Mönch abgestellt, der sich täglich bei Semjon Jakowlewitsch aufhielt. Alle versprachen sich ein großes Vergnügen. Keiner aus dieser Gesellschaft hatte Semjon Jakowlewitsch je gesehen. Ljamschin war der einzige, der ihn schon früher einmal aufgesucht hatte und nun beteuerte, er habe befohlen, ihn mit einem Reisigbesen hinauszujagen, und ihm eigenhändig zwei große gekochte Kartoffeln nachgeworfen. Unter den Reitern entdeckte ich Pjotr Stepanowitsch, der wieder ein gemietetes Kosakenpferd ritt, in miserabler Haltung, sowie Nikolaj Wsewolodowitsch. Dieser beteiligte sich gelegentlich an gemeinschaftlichen Unternehmungen, stets mit angemessen heiterer Miene, obwohl er ebensowenig und ebensoselten sprach wie früher. Als die Expedition auf dem Weg zur Brücke hinunter das Stadthotel erreichte, erzählte jemand plötzlich, daß in diesem Hotel, in einem Zimmer, soeben ein Reisender, der sich erschossen hätte, aufgefunden worden sei und daß man auf die Polizei warte. Sofort regte sich der Wunsch, den Selbstmörder anzusehen. Der Wunsch wurde allgemein begrüßt: Unsere Damen hatten noch nie einen Selbstmörder gesehen. Ich entsinne mich, daß eine von ihnen sogleich laut verkündete: »Alles ist inzwischen so langweilig geworden, daß es zwecklos ist, mit Zerstreuungen besonders zimperlich zu sein, Hauptsache, sie sind unterhaltend.« Nur wenige blieben vor dem Eingang stehen und warteten; die anderen betraten gemeinsam den schmutzigen Korridor, und zu meinem Erstaunen sah ich unter ihnen auch Lisaweta Nikolajewna. Das Zimmer des Selbstmörders stand offen, und selbstverständlich wagte niemand, uns am Eintreten zu hindern. Es war ein noch blutjunger Mensch, höchstens neunzehn Jahre alt, und er mußte sehr hübsch gewesen sein, mit dichtem blondem Haar, einem gutgeschnittenen ovalen Gesicht und einer wunderschönen klaren Stirn. Die Leichenstarre war bereits eingetreten, und sein weißes Gesicht schien aus Marmor. Auf dem Tisch lag ein Zettel, von ihm geschrieben, man möge niemand an seinem Tod schuld geben, er habe sich erschossen, weil er vierhundert Rubel durchgebracht hätte. Er hatte tatsächlich »durchgepracht« geschrieben; in vier Zeilen drei Rechtschreibefehler. Hier bejammerte ihn ein beleibter Gutsbesitzer, anscheinend ein Gutsnachbar, der in irgendwelchen eigenen Angelegenheiten im selben Hotel abgestiegen war. Aus seinen Worten war zu entnehmen, daß der Junge von seiner Familie, seiner verwitweten Mutter, seinen Schwestern und Tanten, von ihrem Gut in die Stadt geschickt worden war, um unter Anleitung ihrer in der Stadt wohnenden Verwandten verschiedene Einkäufe für die Mitgift seiner ältesten Schwester zu machen und sie nach Hause zu schaffen. Ihm wurden diese vierhundert Rubel, die man in Jahrzehnten zusammengespart hatte, unter ängstlichem »Ach« und »Och« und endlosen Ermahnungen, Gebeten und Bekreuzigungen anvertraut. Der Junge war bisher bescheiden und zuverlässig gewesen. Als er vor drei Tagen in der Stadt ankam, hatte er keineswegs die Verwandten aufgesucht, vielmehr ein Zimmer im Hotel genommen und sich stehenden Fußes in den Club begeben – in der Hoffnung, dort in irgendeinem Hinterzimmer einen reisenden Bankhalter oder wenigstens ein Poch-Spiel vorzufinden. Aber an jenem Abend wurde nicht gespielt, und auch ein Bankhalter war nicht zur Stelle. Als er schon kurz vor Mitternacht in sein Zimmer zurückkehrte, bestellte er Champagner, Havannas und ein Souper mit sechs oder sieben Gängen. Aber von dem Champagner bekam er einen Rausch, nach der Zigarre mußte er sich übergeben, so daß er die servierten Speisen nicht einmal kostete, sondern fast besinnungslos ins Bett fiel. Am nächsten Morgen, frisch wie ein Äpfelchen aufgewacht, begab er sich sogleich zu den Zigeunern, die jenseits des Flusses in der Vorstadt ihr Lager aufgeschlagen hatten, was er am
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