Böse Geister: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Abend vorher im Club erfahren hatte, und ließ sich im Hotel zwei Tage lang nicht blicken. Gestern war er endlich gegen fünf Uhr nachmittags aufgetaucht, betrunken, war sofort zu Bett gegangen und hatte bis zehn Uhr abends durchgeschlafen. Als er aufwachte, hatte er ein Kotelett, eine Flasche Châteaud’Yquem und Trauben, Papier, Tinte und die Rechnung verlangt. Niemand war etwas Besonderes an ihm aufgefallen; er war ruhig, still und freundlich gewesen. Vermutlich hatte er sich schon gegen Mitternacht erschossen, wobei seltsamerweise niemand den Schuß gehört hatte; man war erst heute gegen ein Uhr mittags stutzig geworden, hatte geklopft, keine Antwort erhalten und die Tür aufgebrochen. Die Flasche Château-d’Yquem war noch halbvoll, auch von den Trauben war ein halber Teller übrig. Der Schuß aus dem kleinen, dreiläufigen Revolver hatte genau ins Herz getroffen. Blut war sehr wenig geflossen. Der Revolver war aus der Hand auf den Teppich gefallen. Der junge Mann lehnte halb liegend in einer Sofaecke. Der Tod mußte augenblicklich eingetreten sein; das Gesicht zeigte keine Spur von Todesqual; der Ausdruck war ruhig, beinahe glücklich, als wäre ihm ein langes Leben beschieden. Alle Unsrigen betrachteten ihn mit gierigem Interesse. Überhaupt liegt in jedem Unglück unserer Nächsten immer etwas, woran sich unser Auge weidet – da gibt es keine Ausnahme. Unsere Damen betrachteten ihn schweigend, ihre Begleiter glänzten um die Wette durch Scharfsinn und schönste Geistesgegenwart. Der eine bemerkte, das sei die beste Lösung gewesen und der Junge hätte sich nichts Vernünftigeres einfallen lassen können; ein anderer folgerte daraus, er habe nur kurz, aber in vollen Zügen das Leben genossen. Ein dritter platzte plötzlich dazwischen: Wie es käme, daß sich jetzt bei uns so viele erhängten und erschössen, gerade als ob man den Halt verlöre oder als ob allen der Boden unter den Füßen wiche. Den Räsonneur streiften unfreundliche Blicke. Dafür pflückte Ljamschin, der seine Ehre darein setzte, den Narren zu spielen, von den Trauben auf dem Teller ein paar Beeren ab, ein anderer folgte lachend seinem Beispiel, und ein dritter streckte die Hand auch nach dem Château-d’Yquem aus. Aber der eintreffende Polizeimeister gebot ihm Einhalt und forderte die Gesellschaft sogar auf, »das Zimmer zu räumen«. Da alle sich inzwischen satt gesehen hatten, verließen sie sogleich widerspruchslos das Zimmer, obwohl Ljamschin sich sogleich aus irgendeinem Grunde bei dem Polizeimeister beschwerte. Die allgemeine Heiterkeit, das Gelächter und die neckischen Reden schienen sich auf der letzten Wegstrecke zu verdoppeln.
Es war Punkt ein Uhr mittags, als man bei Semjon Jakowlewitsch ankam. Die Torflügel des recht stattlichen Kaufmannshauses standen weit offen, und auch der Eingang zum Hinterhaus war unverschlossen. Wir erfuhren sogleich, daß Semjon Jakowlewitsch beim Mittagsmahl sei, jedoch trotzdem empfange. Unsere ganze Gesellschaft trat zugleich ein. Das ziemlich geräumige Zimmer, in dem der Gottesnarr seine Besucher empfing und das Mittagsmahl einnahm, hatte drei Fenster und war in zwei gleichgroße Hälften geteilt durch ein quer von Wand zu Wand laufendes Holzgitter, das bis zum Gürtel reichte. Gewöhnliche Besucher blieben jenseits des Gitters, die Glückspilze wurden auf Weisung des Gottesnarren durch ein Türchen im Gitter in seine Hälfte eingelassen, wo er sie, wenn es ihm beliebte, in einem abgenutzten Ledersessel oder auf dem Sofa Platz nehmen ließ; er selbst thronte stets unverändert in einem altertümlichen zerschlissenen Voltaire-Sessel. Er war ein ziemlich hochgewachsener, aufgeschwemmter Mann von etwa fünfundfünfzig Jahren, mit gelbem Gesicht, spärlichem weißblondem Haar und beginnender Glatze, glattrasiert, mit stets geschwollener rechter Backe und irgendwie schiefem Mund, mit einer großen Warze links neben der Nase, Schlitzaugen und ruhigem, verschlafenem Gesichtsausdruck. Gekleidet war er auf deutsche Art, in einen schwarzen Gehrock, aber ohne Weste und ohne Krawatte. Unter dem Gehrock sah man ein ziemlich derbes, aber weißes Hemd; seine Füße, die wohl krank waren, staken in Pantoffeln. Ich hörte, er wäre Beamter gewesen und hätte immerhin irgendeinen Rang bekleidet. Er hatte soeben eine leichte Fischsuppe zu sich genommen und widmete sich nun dem zweiten Gang – Pellkartoffeln mit Salz. Er nahm nie etwas anderes zu sich und trank nur viel Tee, den er sehr liebte. Drei Diener,
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