Böse Geister: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Werchowenskij.
Die Studentin erhob sich. Sie war bereits mehrmals von ihrem Platz aufgesprungen.
»Ich bin hierhergekommen, um von den Leiden unglücklicher Studenten zu berichten und von dem Protest, zu dem man sie allerorten aufrufen soll …«
Aber sie blieb stecken; sie hatte am anderen Ende des Tisches bereits einen Konkurrenten bekommen, und alle Blicke waren nun auf diesen gerichtet. Der langohrige Schigaljow erhob sich mit finsterer und unfreundlicher Miene langsam von seinem Platz und legte melancholisch ein dickes, außerordentlich eng beschriebenes Heft vor sich auf den Tisch. Er blieb stehen und schwieg. Viele betrachteten das Heft einigermaßen verlegen, aber Liputin, Wirginskij und der hinkende Lehrer schienen irgendwie zufrieden. »Ich bitte ums Wort«, meldete sich Schigaljow unfreundlich, aber bestimmt.
»Das Wort ist Ihnen erteilt«, genehmigte Wirginskij.
Der Redner setzte sich, schwieg ungefähr eine halbe Minute und begann mit bedeutungsvoller Stimme:
»Meine Herrschaften …«
»Hier ist der Cognac!« platzte angewidert und verächtlich die Verwandte dazwischen, die den Tee ausschenkte und nun den Cognac geholt und vor Werchowenskij hingestellt hatte, zusammen mit dem Glas, das sie einfach in der Hand hielt, ohne Tablett und ohne Teller.
Der unterbrochene Redner hielt würdevoll inne.
»Macht nichts, fahren Sie nur fort, ich höre nicht zu!« rief Werchowenskij, während er sich das Glas vollschenkte.
»Meine Herrschaften«, begann Schigaljow von neuem, »indem ich Sie um Ihre Aufmerksamkeit bitte und, wie Sie im weiteren sehen werden, auch um Ihre Hilfe in einer Angelegenheit von höchster Wichtigkeit, sehe ich mich genötigt, meinen Ausführungen eine Einleitung vorauszuschicken.«
»Arina Prochorowna, besitzen Sie eine Schere?« fragte plötzlich Pjotr Stepanowitsch.
»Was wollen Sie mit einer Schere?« fragte sie und starrte ihn fassungslos an.
»Ich habe immer wieder vergessen, mir die Nägel zu schneiden, schon drei Tage«, antwortete er, wobei er ungerührt seine langen und unsauberen Fingernägel betrachtete.
Arina Prochorowna bekam einen roten Kopf, aber Jungfer Wirginskaja schien etwas zu gefallen.
»Ich glaube, ich habe die Schere hier, auf dem Fensterbrett, liegen sehen«, sagte sie, erhob sich von ihrem Platz, ging, fand die Schere und brachte sie sofort mit. Pjotr Stepanowitsch würdigte sie nicht einmal eines Blicks, nahm die Schere und machte sich ans Werk. Arina Prochorowna sah ein, daß es sich hier um ein realistisches Verhalten handelte, und schämte sich ihrer Empfindlichkeit. Die Anwesenden sahen einander schweigend an. Der hinkende Lehrer beobachtete Werchowenskij erbost und neidisch. Schigaljow fuhr fort:
»Nachdem ich meine Energie dem Studium der sozialen Ordnung einer künftigen Gesellschaft, welche die gegenwärtige ablösen wird, gewidmet hatte, bin ich zu der Überzeugung gelangt, daß sämtliche Gründer der sozialen Systeme von den ältesten Zeiten bis auf unser Jahre 187 … Träumer, Fabulierer und Toren waren, welche sich widersprachen und nicht die leiseste Ahnung von Naturwissenschaft und von jenem seltsamen Säugetier, welches den Namen ›Mensch‹ trägt, hatten. Plato, Rousseau, Fourier, die Aluminiumsäulen – das alles ist höchstens für Spatzen geeignet, nicht aber für die menschliche Gesellschaft. Weil aber die künftige Form der Gesellschaft gerade heute, da wir alle endlich zum Handeln bereit sind, um uns nie mehr darüber Gedanken machen zu müssen, von höchster Notwendigkeit ist, schlage ich mein eigenes System einer. Weltordnung vor. Hier ist es.« – Er klopfte auf das Heft. – »Ich wollte der ehrenwerten Versammlung mein Buch in möglichst gekürzter Form referieren; aber nun sehe ich, daß eine Vielzahl mündlicher Erläuterungen erforderlich sein würde, weshalb mein Referat mindestens zehn Abende, entsprechend der Kapitelzahl meines Buches, in Anspruch nehmen muß.« (Man hörte Lachen.) »Außerdem möchte ich im voraus darauf aufmerksam machen, daß mein System noch nicht abgeschlossen ist.« (Wiederum Gelächter.) »Ich habe mich in meinen eigenen Thesen verlaufen, und mein Schluß steht in direktem Widerspruch zu der ursprünglichen Idee, von welcher ich ausgehe. Indem ich von der schrankenlosen Freiheit ausgehe, schließe ich mit dem schrankenlosen Despotismus. Ich behaupte dennoch, daß es außer meiner Lösung der gesellschaftlichen Formel keine andere geben kann.«
Das Lachen wurde lauter und lauter,
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