Böse Geister: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
eingelassen. Ganz besonders erinnere ich mich an einen Zwischenfall, bei dem der kürzlich eingetroffene durchreisende Fürst, der gestern vormittag Julija Michajlowna seine Aufwartung gemacht hatte, in Stehkragen und mit der Haltung einer Gliederpuppe, sich auszeichnete. Er hatte sich auf ihre inständige Bitte ebenfalls die Schleife an seine linke Schulter heften lassen und eingewilligt, die Rolle eines Kollegen von uns, eines Festordners, zu übernehmen. Und nun stellte sich heraus, daß diese stumme Wachsfigur mit eingebauten Federn wenn auch nicht reden, so doch auf ihre Art handeln konnte. Als ein pockennarbiger, baumlanger verabschiedeter Hauptmann an der Spitze einer ganzen Horde drängelnden Gesindels ihn mit der Frage attackierte: »Wo geht’s hier zum Buffet?«, zwinkerte er einem Polizisten zu. Der Befehl wurde unverzüglich ausgeführt: Ungeachtet der Proteste des betrunkenen Hauptmanns wurde er aus dem Saal befördert. Indessen begann endlich das »richtige« Publikum einzutreffen und sich in drei langen Fäden in die drei Gänge zwischen den Stuhlblöcken zu verteilen. Das chaotische Element beruhigte sich einigermaßen, aber das Publikum, selbst das »beste«, sah unzufrieden, mißgestimmt und erstaunt drein; manche Damen einfach erschrocken.
Endlich hatten alle die Plätze eingenommen; auch die Musik verstummte. Man schneuzte sich, man schaute sich um. Man wartete mit einer viel zu feierlichen Miene, ein schon an und für sich schlechtes Zeichen. Aber »die Lembkes« waren noch nicht da. Samt, Seide, Brillanten leuchteten und funkelten überall; Wohlgerüche wogten durch die Luft. Die Männer hatten sämtliche Orden angelegt, die älteren Herrschaften waren sogar in Uniform. Endlich erschien die Frau des Adelsmarschalls, an ihrer Seite Lisa. Noch nie war Lisa so blendend schön gewesen wie an diesem Vormittag und noch nie so prachtvoll gekleidet. Ihr Haar war in Locken frisiert, ihre Augen leuchteten, ihr Lächeln strahlte. Sie machte sichtlich großen Eindruck; alle Blicke waren auf sie gerichtet, man flüsterte. Man sagte, ihr Blick suche Stawrogin, aber weder Stawrogin noch Warwara Petrowna waren gekommen. Ich konnte mir damals ihren Gesichtsausdruck nicht erklären: Warum strahlten soviel Glück, Lebensfreude, Energie und Kraft aus diesem Gesicht? Ich vergegenwärtigte mir den gestrigen Zwischenfall und wußte keine Antwort. Aber »die Lembkes« waren immer noch nicht da. Das war bereits ein Fehler. Später sollte ich erfahren, daß Julija Michajlowna bis zum letzten Augenblick auf Pjotr Stepanowitsch gewartet hatte, ohne den sie in letzter Zeit keinen Schritt mehr tat, obwohl sie es sich niemals eingestehen wollte. En parenthèse sei bemerkt, daß Pjotr Stepanowitsch am Tag zuvor, in der letzten Sitzung des Komitees, die Festordnerschleife mit Entschiedenheit zurückgewiesen hatte, womit er sie sehr, sogar bis zu Tränen, kränkte. Zu ihrer Überraschung, später zu ihrer außerordentlichen Verwirrung (was ich vorwegnehmen möchte), blieb er den ganzen Vormittag, auch während der Matinee, einfach verschwunden, so daß ihn bis zum Abend niemand zu Gesicht bekam. Endlich wurde das Publikum ungeduldig. Auch auf dem Podium geschah nichts. Die hinteren Reihen begannen zu klatschen, wie im Theater. Die älteren Herrschaften wurden ärgerlich: »Die Lembkes machen sich allzu wichtig!« Sogar unter dem besseren Publikum erhob sich ein grundloses Raunen, das Fest werde wohl gar nicht stattfinden, Lembke sei wohl wirklich zu krank und so weiter, und so weiter. Aber, Gott sei Dank, endlich erschienen die Lembkes: Er führte sie am Arm; ich muß gestehen, daß auch ich um ihr Erscheinen gebangt hatte. Und nun schienen die Märchen in sich zusammenzufallen und die Wahrheit zu ihrem Recht zu kommen. Das Publikum durfte aufatmen. Lembke erfreute sich offenbar bester Gesundheit, zu diesem Schluß waren, soweit ich mich erinnere, alle gekommen, denn man kann sich vorstellen, wie viele Blicke auf ihn gerichtet waren. Es ist charakteristisch, daß in unseren höchsten Kreisen überhaupt nur sehr wenige vermuteten, daß Lembke irgend eine Krankheit habe; sein Handeln wurde als völlig normal angesehen, mehr noch, die gestrige Szene auf dem Platz wurde sogar gebilligt. »So hätte man von Anfang an vorgehen sollen«, meinten die Honoratioren, »denn man reist als Philanthrop an und endet schließlich beim Altbewährten, ohne zu merken, daß gerade dieses für die Philanthropie unbedingt nötigt ist.« So urteilte
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