Böse Geister: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Dreistigkeit, daß es nicht einmal möglich war, Liputin mit Dummheit zu entschuldigen. Dabei war Liputin alles andere als dumm. Die Absicht war klar, jedenfalls für mich: Man hatte es eilig mit dem Tumult. Einige Zeilen dieses idiotischen Gedichts, wie zum Beispiel die letzten, waren von solcher Art, daß keine Dummheit sie entschuldigen konnte.
Liputin selbst schien zu fühlen, daß er zu weit gegangen war: Nachdem er seine Großtat vollbracht hatte, war er von der eigenen Frechheit so verdutzt, daß er nicht einmal das Podium verließ und stehen blieb, als wolle er irgend etwas hinzufügen. Er hatte sich wahrscheinlich ein ganz anderes Resultat vorgestellt; aber sogar die Handvoll Randalierer, die während seines Auftritts geklatscht hatten, waren plötzlich verstummt, als wären sie ebenfalls verdutzt. Das Dümmste aber war, daß viele von ihnen den ganzen Auftritt pathetisch genommen hatten, das heißt keineswegs für ein Pasquill, sondern für eine realistische und wahrheitsgetreue Schilderung der Gouvernante, für ein Gedicht mit Tendenz. Aber das übertrieben Saloppe der Verse machte schließlich auch sie stutzig. Was das Publikum im ganzen angeht, so war der Saal nicht nur skandalisiert, sondern offenkundig beleidigt. Ich täusche mich nicht, wenn ich diesen Eindruck wiedergebe. Julija Michajlowna pflegte später zu sagen, es hätte nur noch eines Augenblicks bedurft, und sie wäre in Ohnmacht gefallen. Einer der ehrwürdigsten alten Herren reichte seiner alten Dame den Arm, und beide verließen unter den beunruhigten Blicken des Publikums den Saal. Wer weiß, vielleicht wären noch einige ihrem Beispiel gefolgt, wenn nicht in diesem Augenblick Karmasinow höchstpersönlich auf dem Podium erschienen wäre, in Frack und weißer Binde, ein Heft in der Hand. Julija Michajlowna warf ihm einen Blick zu, wie einem Retter … Aber ich war schon hinter den Kulissen; ich brauchte Liputin.
»Das haben Sie absichtlich getan!« sagte ich und packte ihn empört beim Arm.
»Ich habe mir, bei Gott, nichts dabei gedacht«, er wand sich vor Verlegenheit, log und spielte sofort den Bedauernswerten, »man hat mir das Gedicht gerade erst gebracht, und da dachte ich, es sei lustig und ein Scherz …«
»Das haben Sie keineswegs gedacht. Finden Sie diesen stümperhaften Quatsch lustig und einen Scherz?«
»Jawohl, das finde ich.«
»Sie lügen, man hat es Ihnen auch nicht gerade erst gebracht. Sie haben es mit Lebjadkin gemeinsam verfaßt, vielleicht schon gestern, um des Skandals willen. Die letzte Zeile ist zweifellos von Ihnen und die mit dem Küster auch. Warum ist er im Frack auf dem Podium erschienen? Das bedeutet, daß Sie ihn darauf vorbereitet hatten, das Gedicht auch vorzutragen, aber er hatte sich inzwischen besoffen!«
Liputin warf mir einen kalten und höhnischen Blick zu.
»Und was geht Sie das an?« fragte er plötzlich eigentümlich ruhig.
»Was es mich angeht? Auch Sie tragen diese Schleife. Wo ist Pjotr Stepanowitsch?«
»Weiß ich nicht; irgendwo hier; warum?«
»Darum, weil ich jetzt alles durchschaue. Das Ganze ist eine Verschwörung gegen Julija Michajlowna, damit dieser Tag zu einem Skandal wird …«
Liputin sah mich wieder von der Seite an.
»Und was geht Sie das an?« Er grinste, zuckte mit den Achseln und ließ mich stehen.
Es überlief mich kalt. Alle meine Vermutungen bestätigten sich, und ich hatte immer noch gehofft, ich würde mich täuschen. Was sollte ich tun? Ich wollte schon Stepan Trofimowitsch um Rat fragen, aber der stand vor dem Spiegel, probierte ein Lächeln nach dem anderen und konsultierte fortwährend den Zettel mit seinen Notizen. Er sollte gleich nach Karmasinow auftreten und war bereits nicht mehr imstande, mit mir zu reden. Zu Julija Michajlowna eilen? Aber dazu war es noch zu früh. Sie bedurfte einer wesentlich herberen Lektion, um von ihrem Glauben an ihr »Gefolge« und an die allgemeine »fanatische Ergebenheit« geheilt zu werden. Sie hätte mir nicht geglaubt und mich für einen Geisterseher gehalten. Und was hätte sie auch ausrichten können? “Ach was”, dachte ich, “wirklich, was geht mich das an? Ich lege meine Schleife ab und gehe nach Hause, sobald es losgeht ”, das habe ich wirklich so gesagt: “sobald es losgeht”, daran erinnere ich mich.
Aber jetzt mußte ich hinein und Karmasinow anhören. Als ich mich zum letzten Mal hinter den Kulissen umsah, stellte ich fest, daß sich dort ziemlich viel fremdes Volk herumtrieb, sogar Frauen, es
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