Böse Geister: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
die Ermordeten sehen. Sie haben seine Frau ermordet, sagt man, aber er sagt, er selbst habe sie ermordet, aber das ist doch nicht wahr, das ist doch nicht wahr? Ich will sie mit eigenen Augen sehen, die … um meinetwillen Ermordeten, ihretwegen liebt er mich seit dieser Nacht nicht mehr … ich werde sie sehen und alles wissen. Schneller, schneller, ich kenne dieses Haus … dort hat es gebrannt … Mawrikij Nikolajewitsch, mein Freund, vergeben Sie mir nicht, mir Ehrlosem! Warum sollte man mir vergeben? Warum weinen Sie? Sie sollen mich ohrfeigen und mich totschlagen, mitten im Feld, wie einen Hund!«
»Niemand darf jetzt Ihr Richter sein«, sagte Mawrikij Nikolajewitsch mit fester Stimme, »vergebe Ihnen Gott, am wenigsten kann ich Ihr Richter sein!«
Aber jeder Versuch, ihr Gespräch wiederzugeben, wäre müßig. Indessen gingen sie Hand in Hand dahin, sehr schnell, hastig, halb von Sinnen. Sie gingen geradewegs auf die Brandstätte zu. Mawrikij Nikolajewitsch hatte die Hoffnung immer noch nicht aufgegeben, wenigstens einem Bauernwagen zu begegnen, aber niemand und nichts war zu sehen. Feiner, dünner Regen durchdrang die ganze Gegend und dämpfte jeden Widerschein und jede Nuance zu einer einzigen rauchigen, bleiernen, gestaltlosen Masse. Es war schon lange Tag, aber es schien, als ob die Morgendämmerung noch nicht angebrochen wäre. Und plötzlich tauchte aus diesem rauchigen, kalten Dunst eine Gestalt auf, seltsam und absonderlich, die sich ihnen entgegenbewegte. Jetzt, da ich mir dies vergegenwärtige, glaube ich, ich hätte an meinen Augen gezweifelt, wenn ich an Lisaweta Nikolajewnas Stelle gewesen wäre, sie aber stieß einen Freudenschrei aus und erkannte den Näherkommenden sofort. Es war Stepan Trofimowitsch. Wie er durchgebrannt war, auf welche Weise die wahnsinnige, abstrakte Idee einer Flucht sich verwirklichen konnte – davon später. Ich möchte nur erwähnen, daß er an diesem Morgen bereits fieberte, aber auch die Krankheit hatte ihn nicht zurückhalten können: Unbeirrt schritt er über den nassen Boden dahin; es war deutlich zu sehen, daß er das Unternehmen so gut vorbereitet hatte, wie es ihm bei der Hilflosigkeit seines Studierstubendaseins aus eigener Kraft nur möglich war. Er trug das »Reisekostüm«, das heißt, er hatte die Arme in die Ärmel seines weiten Mantels gesteckt und ihn mit einem breiten Lackledergürtel mit Schnalle umgürtet. Dazu neue hohe Stiefel und Beinkleider, die in den Schäften staken. Wahrscheinlich hatte er schon seit geraumer Zeit sich einen Reisenden so ausgemalt und den Gürtel und die hohen Stiefel mit den glänzenden Husarenschäften, in denen er sich kaum bewegen konnte, sich vor wenigen Tagen zugelegt. Ein Hut mit breiter Krempe, ein Kämelgarnschal, fest um den Hals gebunden, ein Stock in der rechten Hand und in der linken ein kleiner, aber praller Sac-de-voyage vervollständigten das Kostüm. Dazu, ebenfalls in der rechten Hand, ein aufgespannter Regenschirm. Diese drei Gegenstände – Schirm, Stock und Sac-de-voyage – waren die erste Werst sehr unbequem zu tragen gewesen und bei der zweiten auch noch schwer.
»Sind Sie es wirklich?« rief Lisa und betrachtete ihn mit leidvollem Staunen, das den ersten Ausbruch ihrer unbewußten Freude ablöste.
»Lise!« rief Stepan Trofimowitsch und stürzte wie außer sich auf sie zu. »Chère, chère! Ist es denn möglich, daß auch Sie … in diesem Nebel? Sehen Sie: der Widerschein der Feuersbrunst! Vous êtes malheureuse, n’est-ce pas ? Ich sehe es, ich sehe es, Sie brauchen nichts zu erzählen, aber Sie sollen mich auch nicht ausfragen. Nous sommes tous malheureux, mais il faut les pardonner tous. Pardonnons, Lise , und wir werden ewig frei sein. Um die Welt hinter sich zu lassen und völlig frei zu sein – il faut pardonner, pardonner et pardonner!«
»Aber warum knien Sie nieder?«
»Weil ich, indem ich mich von der Welt verabschiede, in Ihrer Gestalt meiner ganzen Vergangenheit adieu sage!« Er weinte und drückte ihre beiden Hände an seine feuchten Augen. »Ich beuge das Knie vor allem, was schön war in meinem Leben, küsse Ihre Hände und bin dankbar! Ich habe mich entzweigeschlagen: dort – der Rasende, der davon träumte, den Himmel zu erstürmen, vingt-deux ans ! Hier – ein mutloser, frierender alter Mann, ein Hauslehrer … chez ce marchand, s’il existe pourtant, ce marchand … Aber wie naß Ihre Kleider sind, Lise!« – rief er sich erhebend, als er spürte, daß
Weitere Kostenlose Bücher