Böse Geister: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
er trat nochmals vor sie hin, um sie zu betrachten; ihr Rock war ein wenig hochgerutscht, und das rechte Bein war bis zum Knie zu sehen. Er wandte sich plötzlich ab, fast erschrocken, zog seinen warmen Mantel aus und deckte, selbst nur mit dem alten fadenscheinigen Oberrock bekleidet, die entblößte Stelle zu, sorgsam bemüht, sie dabei nicht anzusehen.
Anheizen, auf den Zehen schleichen, die Schlafende betrachten, in der Ecke träumen, wiederum die Schlafende betrachten – das dauerte eine ganze Weile. So waren zwei bis drei Stunden vergangen. Und in ebendieser Zeit hatten Werchowenskij und Liputin Kirillow ihren Besuch abgestattet. Endlich nickte auch er in seiner Ecke ein. Auf einmal hörte man sie stöhnen; sie war erwacht, sie rief nach ihm; er fuhr auf, als habe er ein Verbrechen begangen.
»Marie! Ich bin eingeschlafen … Ich bin ein Schuft, Marie!«
Sie richtete sich im Bett auf, sah sich erstaunt um, als wüßte sie nicht, wo sie sich befände, und stieß plötzlich in größter Erregung, voll Zorn und Empörung, hervor:
»Ich liege auf Ihrem Bett und bin vor lauter Müdigkeit eingeschlafen; wie konnten Sie es wagen, mich nicht zu wecken? Wie konnten Sie es wagen, auch nur zu denken, ich wollte Ihnen zur Last fallen?«
»Aber wie konnte ich es über mich bringen, dich zu wecken, Marie?«
»Sie mußten es; Sie sollten es! Hier ist kein zweites Bett für Sie, und ich liege hier. Sie durften mich nicht in diese peinliche Lage bringen. Glauben Sie etwa, ich bin hierhergekommen, um Ihre Wohltaten zu genießen? Augenblicklich müssen Sie in Ihr Bett, und ich lege mich in der Ecke auf Stühle …«
»Marie, ich habe nicht so viele Stühle, und auch kein Bettzeug.«
»Also dann einfach auf den Fußboden, sonst müssen Sie ja selber auf dem Boden schlafen. Ich will auf den Boden, sofort, sofort!«
Sie stand auf und wollte gerade den ersten Schritt machen, aber plötzlich schien ein heftiger, krampfartiger Schmerz sie zu überwältigen und ihr alle Kraft und Entschlossenheit zu nehmen, und sie fiel laut aufstöhnend wieder auf das Bett zurück. Schatow stürzte herbei, aber Marie, das Gesicht in die Kissen versteckt, griff nach seiner Hand und begann sie aus aller Kraft mit der ihren zu drücken und zu pressen. Das dauerte wohl etwa eine Minute.
»Marie, meine Liebe, wenn es nötig ist, hier gibt es einen Doktor Frenzel, ich kenne ihn, einen sehr … Soll ich nicht schnell zu ihm laufen?«
»Unsinn!«
»Wieso Unsinn? Sag doch, Marie, was tut dir denn weh? Man könnte ja heiße Umschläge … auf den Leib, zum Beispiel … das kann ich auch ohne Doktor … oder Senfpflaster …«
»Was ist das? Was ist das?« fragte sie sonderbar, indem sie den Kopf hob und ihn erschreckt ansah.
»Was meinst du denn, Marie?« fragte Schatow verständnislos. »Wonach fragst du? Mein Gott, ich verliere ja den Verstand, Marie, entschuldige, daß ich nichts begreife.«
»Ach, lassen Sie mich in Frieden, es ist nicht Ihre Sache, das zu begreifen. Das wäre ja auch komisch …«, sagte sie mit bitterem Lächeln. »Erzählen Sie mir etwas, gehen Sie im Zimmer auf und ab, und erzählen Sie. Aber Sie sollen nicht neben mir stehenbleiben und mich ansehen, ich bitte Sie ausdrücklich darum, zum fünfhundertsten Mal!«
Schatow nahm die Wanderung durch das Zimmer wieder auf, den Blick auf den Boden gerichtet und aus allen Kräften bemüht, sie nicht anzusehen.
»Hier – bitte ärgere dich nicht, Marie, ich flehe dich an –, hier gibt es Kalbsbraten, in der Nähe, und Tee … Du hast vorhin so wenig gegessen …«
Sie winkte sofort angewidert und erbost ab. Schatow biß sich verzweifelt auf die Zunge.
»Hören Sie, ich habe vor, hier eine Buchbinderei zu eröffnen, natürlich auf der vernünftigen Grundlage einer Genossenschaft. Und da Sie hier wohnen – was halten Sie davon: Wird das gelingen oder nicht?«
»Weißt du, Marie, bei uns werden keine Bücher gelesen, und es gibt auch keine. Und dann soll ein Mensch Bücher binden lassen?«
»Wer ist denn ›ein Mensch‹?«
»Der hiesige Lehrer und überhaupt der hiesige Einwohner, Marie.«
»Dann drücken Sie sich deutlicher aus, und sagen Sie nicht ›ein Mensch‹, man weiß ja nicht, wer ›ein Mensch‹ ist. Von Grammatik halten Sie wohl nichts.«
»Das ist im Geiste der Sprache, Marie«, murmelte Schatow.
»Ach, hören Sie nur auf mit Ihrem Geist, ich habe genug davon. Warum wird der hiesige Einwohner oder Leser seine Bücher nicht binden
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