Böser Bruder, toter Bruder
Weile begreife, wo ich bin. Im Krankenhaus.
Aber warum?
Es fällt mir schwer, mich daran zu erinnern, was passiert ist. Mein Gehirn scheint viel langsamer zu arbeiten als der Rest meines Körpers, und ich kann mir keinen Reim aus meinen dunklen, sinnlosen und verworrenen Gedanken machen.
Ich weiß allerdings, dass ich eine Frage unbedingt stellen muss.
Ich versuche zu schlucken, aber es fällt mir schwer.
»Jamie?«, flüstere ich.
Ich habe so leise gesprochen, dass mich niemand verstehen konnte. Mit meiner Stimme stimmt was nicht. Sie ist brüchig und heiser und klingt, als würde sie nicht zu mir gehören.
»Was hast du gesagt, mein Schatz?« Mum beugt sich über mich, und ihre verschwommenen Gesichtszüge werden ein wenig schärfer. Sie nimmt meine Hand. Der Arzt tritt näher an mein Bett, die Schwester auch.
Ich lecke mir über die trockenen Lippen und wünschte, mein Hirn würde sich nicht wie Brei anfühlen.
»Jamie.« Dieses Mal schaffe ich es, meiner Stimme etwas mehr Kraft zu verleihen. »Jamie. Wo ist er? Ich konnte ihn nicht finden.«
Mum schnappt nach Luft. Unsicher sieht sie erst mich, dann den Arzt an. Tränen rollen ihr über die Wangen, aber sie gibt keinen Laut von sich.
»Ist Jamie etwas passiert?«, frage ich verzweifelt. »Warum antwortet ihr nicht?«
Der Arzt beugt sich über mich. Er ist mittleren Alters und sein Haar ist grau.
»Mia? Wie fühlst du dich?«
»Wo ist Jamie?«, wiederhole ich stur.
Und dann, viel zu spät, begreife ich, was ich gesagt habe.
Selbst in meinem benebelten Zustand erkenne ich, dass ich einen großen Fehler gemacht habe.
Der Arzt runzelt die Stirn. »Mia«, sagt er sanft. »Erzähl mir, wer ist Jamie?«
Neunzehn
» Nun habe ich euch etwas über die Menschen erzählt, die mir viel bedeuten: meine Lehrerin M s Kennedy, meine Freundin Bree und meinen Großvater «, liest Dr . Macdonald in nüchternem Ton vor. »Aber kein Mensch ist mir wichtiger als mein Zwillingsbruder Jamie. Er starb, als ich geboren wurde.«
Dr . Macdonald legt die Seiten meines preisgekrönten Aufsatzes auf ihren Tisch und sieht mich an. Sie ist klein und ihr schwarzes Haar glänzt wie in einer Shampoowerbung. Sie hat es kunstvoll hochgesteckt, um ihren langen Hals zu betonen. Ihr knielanges Kleid ist chic und marineblau, die flachen Pumps sind perfekt darauf abgestimmt. Sie ist Psychologin oder Psychiaterin, ich kann mir den Unterschied nie merken. Jedenfalls eine Ärztin für den Kopf.
Ich bin immer noch im Krankenhaus, obwohl es mir körperlich wieder ganz gut geht. Seit zwei Wochen kommt Dr . Macdonald stundenweise zu mir, und mittlerweile, darüber bin ich selbst überrascht, will ich tatsächlich reden. Zuerst habe ich ihr nicht getraut, aber jetzt ist mein emotionaler Damm gebrochen, und die Worte sprudeln nur so aus mir heraus. Ich bin das menschliche Äquivalent zu den Niagarafällen. Es kümmert mich nicht mehr, was andere von mir denken. Als wäre mir ein Panzer gewachsen, von dem alles abprallt. Ich erzähle Dr . Macdonald von Mum und Opa, Michael Riley und Caroline Zeelander, von Leo Jackson und all den anderen.
Ich erzähle ihr alles und verheimliche nichts.
Dr . Macdonald hört mir zu, und in den ersten Sitzungen unterbricht sie mich nur selten. In ihrem feinen, ovalen Gesicht ist weder Unglaube noch Missbilligung zu lesen. Allerdings auch kein Mitgefühl. Sie ist höflich und schenkt mir fast immer ihre ungeteilte Aufmerksamkeit, ohne preiszugeben, was sie selbst denkt.
»Sehen Sie, ich bin nicht verrückt«, sage ich ruhig. »Ich bin völlig klar im Kopf. Mir war die ganze Zeit bewusst, dass Jamie kein realer Mensch ist wie Sie oder ich. Dass er schon tot auf die Welt kam. Ich habe immer gewusst, dass er ein Geist ist.«
Nein, das stimmt nicht ganz. Als wir noch sehr klein waren, wusste ich es nicht. Schon in meinen frühesten Erinnerungen war Jamie da, mein Zwilling und ständiger Begleiter. Mum und Opa, die Erzieherinnen im Kindergarten und alle anderen spielten einfach mit, wenn ich darauf bestand, dass Jamie auch haben sollte, was ich bekam: Geburtstagskarten, Luftballons, Süßigkeiten und dergleichen.
Schließlich ist es doch niedlich, wenn eine Vierjährige einen imaginären Freund hat, nicht wahr?
Erst nach und nach lernte ich die befremdlichen Blicke und das missbilligende Stirnrunzeln zu deuten und begriff, dass eine Siebenjährige mit einem unsichtbaren Gefährten nicht toleriert wird.
Und so lernte ich zu schweigen. Aber Jamie blieb bei mir, war
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