Böser Bruder, toter Bruder
meinen Kopf zurück, als die Gestalt wieder auf den Gang tritt. Kurz sehe ich noch, wie etwas aufblitzt. Sonnenlicht bricht sich auf dem polierten Stahl der Pistole und bringt sie zum Funkeln.
Ich warte und versuche einzuschätzen, wie lange er brauchen wird, jeden Raum auf diesem Stück des Stockwerks zu kontrollieren.
Wird er aufgeben und in die Klasse zurückkehren? Falls ja, wird er mit Sicherheit den kürzesten Weg nehmen, und der führt genau um diese Ecke.
Und was dann?
Doch falls er nicht zurückkommt, falls er noch weiter nach mir sucht, wird er gleich ins Zentrum des Anbaus gehen. Dort verbreitert sich der Gang zu einer Art Galerie mit Stahlgeländer. Wenn man von da aus nach unten sieht, kann man den ganzen Eingangsbereich überblicken.
Die Galerie ist riesig und leer und nach drei Seiten hin offe n – hier kann sich niemand verstecken. Nur eine einzige Tür geht von ihr ab, und die führt zum Berufsberatungsraum der Schule.
Wieder höre ich, wie eine Tür aufgeht. Ich schätze, dass dies der letzte Raum vor der nächsten Ecke ist, hinter der die Galerie liegt.
Wenn ich ihm nachschleichen wil l – und offen-bar habe ich genau das vor, auch wenn mir mein gesunder Menschenverstand davon abrä t –, muss ich ihm genug Zeit lassen, den Beratungsraum zu durchsuchen und dann in einen anderen Teil des Anbaus zu gehen. Ich darf auf keinen Fall riskieren, auf der Galerie entdeckt zu werden, denn dort wäre ich wie ein Reh im Scheinwerferlicht und könnte nirgendwohin fliehen.
Ich beiße mir so fest auf die Unterlippe, dass ich Blut schmecke, und der Schmerz treibt mich an. Auf Zehenspitzen renne ich bis zur nächsten Ecke. Dort warte ich erst mal ab.
In diesem Augenblick müsste er die Galerie überqueren und auf das Büro der Berufsberatung zugehen. Normalerweise sitzt dort die altbackene, bebrillte und permanent bedrückte Miss Walters, die den Schülern tagaus, tagein einzureden versucht, dass sie nicht wirklich der nächste Beckham oder die nächste Lindsay Lohan werden wollen. Stattdessen sollten sie lieber Lehrer oder Arzt oder Krankenschwester oder Informatiker werden. Bree sagt immer, dass sich bestimmt niemand von Miss Walters beeinflussen lässt, weil sie ein so schlechtes Vorbild abgibt: Sie war so bescheuert, sich für einen Job zu entscheiden, den sie absolut nicht ausstehen kann.
Die arme Bree.
Sie fragt sich bestimmt, was mit mir los ist, schließlich muss M s Powell der Polizei gesagt haben, dass ich noch im Gebäude bin. Dann weiß es inzwischen jeder, ganz sicher.
Ob Mum schon informiert wurde?
Alles, was bisher geschah, zum Beispiel M s Kennedys Unfall, scheint mir ewig her zu sein. Daher bin ich schockiert, als ich einen Blick auf meine Uhr werfe und sehe, dass seit der Evakuierung kaum mehr als eine Stunde vergangen ist.
Ich spähe um die Ecke.
Jetzt habe ich freien Blick auf die Galerie. Sonnenlicht stiehlt sich auch hier an den Rollos vorbei und erhellt die offene Fläche. Staubpartikel tanzen träge durch die Luft.
Auf der linken Seite kann ich die Tür zum Berufsberatungsraum sehen. Sie ist zu. Rechts ragt die Galerie über den Haupteingang. Sobald ich sie betrete, bin ich ungeschützt und verwundbar.
Meine Angst ist kaum noch auszuhalten. Sie lässt mich nach Luft ringen wie ein Asthmatiker, und ich versuche verzweifelt, mich zu beruhigen.
Ich ziehe mich wieder hinter meine Ecke zurück. Wieder warte ich dicht an die Wand gepresst, und wieder zehrt das Warten so sehr an meinen Nerven, dass ich zu zittern anfange.
Er kann unmöglich immer noch Miss Walters Büro durchsuchen. Zwischen den Regalen mit den penibel geordneten Studienhandbüchern und Karrierefaltblättern gibt es doch kaum Versteckmöglichkeiten.
Dennoch warte ich drei weitere, unendlich lange Minuten ab, um mir Gewissheit zu verschaffen.
Nichts passiert. Die Tür bleibt geschlossen.
Jetzt weiß ich, dass er in den anderen Teil des Anbaus gegangen ist und für mich keine Gefahr besteht, wenn ich ihm folge.
Es sei denn, er entscheidet sich plötzlich, wieder umzukehren. Aber daran möchte ich gar nicht erst denken.
Ich stoße mich von der Wand ab und laufe los. Während ich an der Bürotür vorbeirenne, schaue ich über das Geländer hinab ins Erdgeschoss. Ich würde gerne wissen, ob die Polizei dort unten vor dem Eingang steht und auf einen geeigneten Moment wartet, um das Gebäude zu stürmen.
Ich werde ihn irgendwo in dem Labyrinth aus Gängen und Räumen im hinteren Teil des Anbaus einsperren. Und
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