Böser Bruder, toter Bruder
will sie darauf hinaus, dass Opa in den letzten Wochen seines Lebens unter Medikamenteneinfluss stand und nicht mehr klar denken konnte.
»Am Tag, als er starb, konnte er Jamie sehen«, sage ich stur. »Das weiß ich genau.«
Dr . Macdonald und ich tragen ein Wortgefecht aus. Ich konfrontiere sie mit dem, was ich weiß, auch wenn es weit hergeholt klingt, und sie begegnet meinen Worten mit kalter, harter Logik.
»Und von Dr . Zeelander habe ich Ihnen doch auch erzählt«, fahre ich fort und sehe ihr direkt in die Augen. Die alte Mia hätte sich das niemals getraut. »Als sie sich weigerte, mit uns über Mum zu sprechen, wurde Jamie so sauer, dass er den Ablagekorb von ihrem Schreibtisch fegte. Und in diesem Moment muss Dr . Zeelander ihn gesehen haben, denn sie war wie gelähmt.«
Dr . Macdonald nickt nachdenklich. »Hat sie denn etwas dazu gesagt?«
»Nein, aber wir können sie ja fragen«, gebe ich trotzig zurück. »Oder denken Sie vielleicht, Dr . Zeelander hatte auch Halluzinationen?«
»Du hast Recht, wir sollten sie einfach fragen«, stimmt Dr . Macdonald zu meinem Erstaunen zu.
»Und dann ist da ja noch Mum«, rede ich weiter, fest entschlossen, sie zu überzeugen. »Sie hat Jamie zwar nicht gesehen, aber nach dem zu urteilen, was sie sagt, kann sie uns manchmal miteinander reden hören.«
»Mia, deine Mutter leidet an einer bipolaren affektiven Störun g – auch manische Depression genannt«, entgegnet Dr . Macdonald ruhig. »Halluzinationen, sowohl visuelle als auch auditive, sind keine seltenen Begleiterscheinungen dieser Krankheit.«
»Ach, und Sie denken, dass ich die Krankheit von ihr geerbt habe?«, blaffe ich sie an.
Das sollte ein Witz sein, aber sie lächelt nicht.
»Hören Sie.« Ich bin so nervös, dass ich aufspringe und in dem Krankenhauszimmer auf und ab gehe. »Sie glauben mir nicht, dass Jamie ein Geist ist. Und Sie denken, ich hätte mir das alles nur ausgedacht. Doch andere Leute haben ihn auch gesehen, nicht nur ich! Vielleicht hat er all diese Dinge, von denen ich Ihnen erzählt habe, gar nicht getan, aber das wären dann schon ziemlich seltsame Zufälle, nicht wahr? Und wenn Jamie es nicht war, wer denn dann? Es war ja nieman d …«
Dr . Macdonald schweigt. Draußen wird es dunkel, und sie knipst das Licht an. Die ganze Zeit über sieht sie mich an, sagt aber nichts.
Und dann trifft mich die Erkenntnis wie ein Faustschlag. Meine Knie geben nach, als könnten sie mein Gewicht nicht mehr tragen, und ich sinke zurück auf meinen Stuhl.
»Sie glauben, dass ich es war«, flüstere ich. Es kostet mich enorm viel Kraft weiterzusprechen. »Sie glauben, ich bin Jamie.«
»Das habe ich nicht behauptet, Mia«, entgegnet Dr . Macdonald. Zum ersten Mal höre ich einen Hauch von Mitgefühl in ihrer Stimme. »Das sagst du .«
»Abe r …« Vollkommen verwirrt drücke ich meine Finger gegen die Schläfen. Mein Gesicht glüht, aber meine Hände sind eiskalt. »Sie glauben, dass zwei Personen in meinem Kopf sind. Aber das ist nicht möglich! Ich rede mit Jamie. Ich kann ihn anfassen . Ihn sehen .«
Meine Stimme kippt vor Entsetzen. Ich habe Jamie und mich immer als zwei Hälften eines Ganzen betrachtet. Und jetzt stellt sich heraus, dass wir noch viel enger miteinander verbunden sind.
Eine multiple Persönlichkeit.
Zwei Menschen in einem Körper, einem Geist.
In meinem.
Das glaube ich nicht. Das will ich nicht glauben. Doch im Verlauf der Sitzungen hat Dr . Macdonalds langsame, aber wirkungsvolle Steter-Tropfen-höhlt-den-Stein-Methode alles, wovon ich bisher überzeugt war, still und leise zersetz t – wie Säure, die sich durch Metall frisst.
»Aber wenn ich das alles getan hätte, dann würde ich mich doch daran erinnern, oder?«, platze ich heraus. Es kommt mir vor, als wäre mein Verstand in lauter kleine Stücke zerbrochen, die nun in alle Himmelsrichtungen davonwirbeln. Und als könnte ich jeden Gedanken nur kurz festhalten, um ihn zu betrachten, bevor ich zum nächsten weiterrenne. »Ich würde mich daran erinnern können, wenn ich das Haus meines Vaters in Brand gesetzt, Michael den Arm gebrochen und das Auto der Ärztin demoliert hätte.«
»Nicht unbedingt, Mia«, erwidert Dr . Macdonald. »Unser Verstand kann uns täuschen. Er ist sehr geschickt darin, uns vorzumachen, dass Schwarz Weiß ist und umgekehrt.«
»Aber ich habe gesehen , wie Jamie zum Anbau gegangen ist, bevor der Alarm losging«, bricht es aus mir heraus. Es gibt so viele Gründe, warum das nicht wahr
Weitere Kostenlose Bücher